Bernhard Fetz bloggt über Literatur im Museum

Bernhard Fetz erklärt im März, warum ihn denkmalgeschützte Regale bis in den Schlaf hinein verfolgen, und erzählt über Stürze von der Leiter, Abschweifungen als Prinzip und das neue Literaturmuseum.

Vor vielen Jahren, ich glaube es war 1993, habe ich gemeinsam mit Christine Böhler ein Projekt realisiert, das den Titel trug: „Wörter brauchen keine Seiten“. Darauf bin ich immer noch ein bisschen stolz, weil es bereits damals die Materialität und Virtualität von Literatur abseits des Buches und abseits der klassischen LeserInnenhaltung – damit ist gemeint, abseits der verschiedenen Weisen, ein Buch in Händen zu halten, um darin zu lesen – thematisierte.

 

Auf der großen Anzeigetafel am Westbahnhof zum Beispiel, die damals nicht digital funktionierte, sondern ihre Werbebotschaften mittels hunderter (oder gar tausender) Glühlampen in den Himmel über dem Europaplatz schrieb, waren sloganartige Sätze von Elfriede Jelinek, Bodo Hell und Werner Kofler zu lesen. Apropos Werner Kofler. Er war einer der Großen der österreichischen Literatur nach 1945. Einer seiner Sätze auf der Tafel ging so: „Liebesroman in einem Satz: ‚Vergiss Venedig‘, sagte sie bitter“. Besser und kürzer geht’s nicht.

 

Womit ich bei jenem Projekt bin, das mich seit vielen Monaten intensiv beschäftigt: der Planung eines Literaturmuseums in der Wiener Johannesgasse 6. Dieses Museum öffnet seine Pforten am Wochenende des 18./19. April 2015 an einem Ort, der einst Franz Grillparzers Dienstadresse als k.k. Hofkammer-Archivdirektor war und der manchmal auch als sein Arbeitsrefugium diente (er schrieb hier an einem Stehpult sicher auch an seinen Stücken). Im Literaturmuseum ist ein Ausschnitt aus einem Film zu sehen, den wir damals für „Wörter brauchen keine Seiten“ initiierten und dann in einer Blackbox am Karlsplatz zeigten: „Im Museum“, Regie und Text von Werner Kofler. Ein Kustos führt eine/n MuseumsbesucherIn durch ein imaginäres Museum deutscher Geschichte, suggestiv ist die Erzählerstimme, die etwa zu einer Ansammlung von Schreibtischen führt, an denen NS-Schergen sitzen. Unter ihnen der SS-Gruppenführer Odilo Globocnik aus Kärnten, einer der Schlimmsten. Zu sehen ist in diesem Film – fast nichts. Und doch viel: Sträucher, eine Winterlandschaft, Pflastersteine. Das Grauen ist nicht abbildbar, das ist die überzeugende ästhetisch-moralische Botschaft dieses Films.

 

Das Literaturmuseum ist ein Schaumuseum und ein Hörmuseum. Abseits der Seiten mit Handschriften von Ingeborg Bachmann bis zu Ludwig Wittgenstein sind zahlreiche Hörstationen, Filmstationen, Medieninstallationen Teil einer Dauerausstellung zur österreichischen Literatur von der Aufklärung bis in die Gegenwart –  das alles eingebaut in die denkmalgeschützten Regale eines ehemaligen Verwaltungsarchivs. Sie verfolgen mich in diesen Tagen bis in den Schlaf hinein, wo sie sich mit Lektürefetzen verbinden, Sätzen wie jenen, die der Archivdirektor Grillparzer in sein Tagebuch schrieb: Ein realer Sturz von der obersten Stufe einer Archivleiter wird in der Verschriftlichung zu einem Stück Literatur. Bis Grillparzer in seiner Beschreibung der Szene wieder wie durch ein Wunder unverletzt auf dem Fußboden zu stehen kommt, vergeht ziemlich viel Lesezeit, er hätte mindestens den Boden durchschlagen und im Keller landen können. Im freien Fall kann einem unglaublich viel durch den Kopf gehen. Aber kommen Sie ins Museum und schauen Sie selbst!

 

Ein zentrales Prinzip der Literatur und auch eines Literaturmuseums ist die Abschweifung: Mir fällt gerade das großartige Buch eines aus Prag stammenden Dadaisten ein, sein Name ist Melchior Vischer. Das Cover seines Buches „Sekunde durch Hirn. Ein unheimlich schnell rotierender Roman“ von 1920, erschienen in der Reihe „Die Silbergäule“ des Paul Steegemann Verlages, stammt von Kurt Schwitters; es ist ebenfalls im Museum zu entdecken. Hier fällt keiner von der Leiter, sondern gleich vom 40. Stock eines Wolkenkratzers in die Tiefe. Das Buch ist der Lebensfilm des „Stukkatörs“ Jörg Schuh.

 

Ich muss hier abbrechen, die Gefahr ist groß, dass ich vom Hundertsten ins Tausendste komme, und vielleicht nicht mehr zurückfinde.

Gastblogger/in

Bernhard Fetz Foto: Astrid Wallner
Foto: Astrid Wallner

Bernhard Fetz wurde 1963 geboren. Direktor des Literaturarchivs, des Literaturmuseums und der Sammlung für Plansprachen der Österreichischen Nationalbibliothek. Privatdozent am Institut für Germanistik der Universität Wien. Leitende Mitarbeit an größeren wissenschaftlichen Projekten (u.a. Ludwig Boltzmann Institut für Geschichte und Theorie der Biographie). Als Literaturkritiker Beiträge u. a. für den Österreichischen Rundfunk, Falter, Die Presse und Neue Zürcher Zeitung. Ausstellungs-

gestaltungen; Mitherausgeber der Albert Drach-Werkausgabe in zehn Bänden; Herausgeber der Reihe Österreichs Eigensinn. Eine Bibliothek (Salzburg 2012ff.). Zahlreiche Arbeiten vor allem zur Literatur und zur Kulturgeschichte des 20. Jhdt.

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