Filme lesen
Tatsächlich bedarf es, im Gegensatz zur Lektüre von geschriebenen Texten, zum Lesen von bewegten Bildern keiner Schul- oder ähnlicher Bildung. Man setze ein Kind vor den Fernseher und es ... nun ja, es versteht zunächst einmal nicht besonders viel. Es erkennt Figuren und Dinge aufgrund deren Ähnlichkeit mit realen Figuren und Dingen wieder. Ein geschriebener Text ist in dieser Hinsicht um einiges verschlossener als Filmbilder. Das Wort "Baum" hat nicht die geringste Ähnlichkeit mit einem Baum. Wer seine Bedeutung entschlüsseln will, muss lesen lernen.
Filmbilder entschlüsseln
Allerdings aber muss auch, wer die Bedeutung von Filmbildern einigermaßen umfassend entschlüsseln möchte, weit mehr können als nur Figuren und Dinge wiederzukennen. Bereits die anspruchsloseste Filmhandlung erfordert gewisse Fähigkeiten – zum Beispiel die Fähigkeit, aus räumlich und zeitlich auseinander liegenden Fragmenten ein schlüssiges Ganzes zu rekonstruieren. Eine Filmhandlung gleicht in dieser Hinsicht einem Puzzle, dem Teile fehlen, dessen Motiv sich aber bei entsprechender Lesefähigkeit auf durchaus befriedigende Weise als Ganzes erschließt. So lassen sich beispielsweise in 90 Minuten Filmhandlungen erzählen, die sich über Tage, Wochen oder Jahre erstrecken – und zwar auch ohne die Verwendung von Sprach- oder Schriftbehelfen wie "später", "am nächsten Tag" u. ä. Wie die Schrift benutzen allerdings auch Filme Formeln für die Verortung einer Handlung in auseinander liegenden oder wechselnden Räumen und Zeiten. Dass Filmsprachen diese Formeln nach Möglichkeit verstecken oder zumindest mit einer Beiläufigkeit verwenden, die einem Verstecken gleichkommt, heißt keinesfalls, dass sie nicht durchgehend im Einsatz sind. Filme sind beispielsweise voller adverbialer Wendungen, die sich unauffällig in die Wahrnehmung mischen und dabei sehr präzise funktionieren. Die vage Ortsbestimmung eines Adverbs wie z. B. "Dahinter" beinhaltet in der filmischen Umsetzung bereits eine recht präzise Entfernungsangabe, ein "Sehr" eine ziemlich treffsicheren Eindruck vom Wie-Sehr und ein "Kopfüber" eine konkrete (schauspielerische) Performance.
Filmische Grammatik
Kamera, Setdesign, Schnitt, Filmmusik etc. sind effektive Hilfsmittel, um die "Lektüre" eines Films im Sinne einer breit gefächerten Grammatik zu steuern. Wenn zum Beispiel Ilsa (Ingrid Bergmann) in "Casablanca" ihren ehemaligen Geliebten Rick (Humphrey Bogart) mit einer Pistole bedroht, die Kameraeinstellung auf ihr Gesicht von Halbnah auf Großaufnahme wechselt, ein Streicherorchester das musikalische Motiv ihrer Liebe aufgreift und die Kameraschärfung den Hintergrund verschwimmen lässt, hat uns die filmische Grammatik den emotionalen Zustand der Protagonistin lesen (und mitempfinden) lassen – selbst wenn ihr offensichtliches Handeln dazu in scheinbarem Widerspruch steht. Die Fähigkeit, Filme im Sinne solcher konventionellen filmischen Grammatiken zu lesen, haben wir uns im Zuge unserer kulturellen Sozialisation weitestgehend ohne proaktives Zutun erlernt. Das Verständnis von Filmen mit komplexerer Rhetorik, in denen Symbolebenen, Subtexte oder subtile Bedeutungszusammenhänge sinnstiftend wirken, setzt hingegen eine Form von Bildung voraus, die sich über den Konsum des Vorabend-Fernsehprogramm – und mittlerweile bedauerlicher Weise auch großer Teile des gesamten Programms – nur schwer erwerben lässt.
Filme bewusst wahrnehmen
Was Filme jedoch effektiv macht, ist nicht der Grad der Komplexität ihrer Rhetorik, sondern das Maß, in dem diese Rhetorik ihre Mittel vor der bewussten Wahrnehmung zu verbergen weiß. Das klingt nach Propaganda – und ist es auch. Im besten Fall propagieren Filme durch ihre Rhetorik eine Geschichte so, dass wir sie uns wie etwas Selbst-Erlebtes aneignen. Im schlimmsten Fall operieren sie tatsächlich im Sinne politischer Propaganda.
An diesem Punkt ist die Unterscheidung zwischen einer habituell erworbenen Lesefähigkeit und einer darüber hinausgehenden Lesekompetenz nicht mehr nur eine Frage des ästhetischen Mehrwerts. Wer lediglich den emotionalen Bewegungen von Filmfiguren zu folgen und die Handlung im Sinne der Erzählinstanz vollständig zu erfassen imstande ist, bleibt (im besten, aber auch im schlimmsten der soeben genannten Fälle) manipulierbar. Wer hingegen die Mittel und Prozesse der Bedeutungsbildung durchschaut, erlebt bei der Filmrezeption etwas, was man, leicht dramatisch überhöht, mit luzidem Träumen vergleichen könnte: Man taucht in die Welt der Traumfabriken ein und lässt sich von deren Mechanismen mitreißen, ist sich aber über das, was einem dabei geschieht, im Klaren.