Bildlesekompetenz

Im Alltag ist Bildlesekompetenz unumgänglich. Ob für Bauanleitungen schwedischer Möbelhäuser, im Straßenverkehr oder bei der Internetrecherche: Alltagskommunikation ist Kommunikation in Bildern.

AutorIn: 
Andrea Kromoser


Um die Welt erfassen und verstehen zu können, müssen ihre Zeichen und Symbole gelesen werden. Online deuten unterschiedliche Icons oder Logos auf immer mehr Informations- oder Kommunikationsmöglichkeiten hin, in den Straßen verraten uns bildlich dargestellte Zeichen, wo bestimmte Ge- und Verbote eingehalten werden sollen oder beispielsweise Lebensmittel verkauft werden. Selbst ohne einzelne Schriftzeichen lesen zu können, ist ein überdimensional dargestelltes, gelbes Einkaufssackerl an der Fassade eines Geschäftslokales jederzeit identifizier- und "les"bar. Die Schriftzeichen verschmelzen mit der allegorischen Darstellungsweise zu einem Gesamtbild, eine Botschaft wird gemeinsam und mittels beider Ebenen dargestellt. "Bilder werden in Wörter übersetzt und umgekehrt, und daraus entsteht eine Sprache, mit deren Hilfe wir unser Dasein erfassen und begreifen wollen. Die Bilder, aus denen unsere Welt besteht, sind Symbole, Zeichen, Botschaften und Allegorien. (…) Unsere Existenz beruht auf Sprache und Bildern."(1)

 

Aus Bildern werden Gedanken, aus Gedanken Worte

Dieses essentielle Zusammenspiel von Sprache und Bildern ist im Medium Bilderbuch bedeutungstagend. Hier verschmelzen Schrift und Illustrationen auf unterschiedliche Weisen, gehen miteinander ein Spiel ein, um gemeinsam ihre Geschichte zu erzählen. Philip Waechter illustriert beispielsweise in "Kuchen bei mir" auf der Bildebene eine komplexe Handlung, bespickt mit Details und angedeuteten Binnenhandlungen, während sich der Text mit einzelnen Aufforderungs- und Fragesätzen einerseits zurücknimmt und andererseits einen deutlichen Kontrapunkt setzt. Ein Wal schwimmt durch die stürmischen Wellen der Illustration, eine Glasflasche wird durch seine Wasserfontäne in die Höhe geschleudert. Der Text zu diesem Bild sagt: "Es gibt Kuchen!"(2) Auf den ersten Blick scheinen sich Bild- und Textebene uneinig zu sein, als würden sie zwei unterschiedliche Ziele verfolgen, ihr stimmiges sowie humoristisches Zusammenspiel erschließt sich erst aus dem Ende des Buches.

 

"Dementsprechend lässt sich auch das Lesen von Illustrationen konzeptualisieren als Prozess, in dem Wahrnehmung in Kommunikation übergeht und umgekehrt. Die Bildlektüre webt einen Teppich aus Wahrnehmungen und Worten, in dem immer neue Muster entstehen."(3) Aus Bildern entstehen also Gedanken und Wörter. Ein Vorgang, welcher auch beim Lesenlernen der Schriftzeichen eine Schlüsselrolle einnimmt. Die ersten selbst gelesenen Worte sind oftmals eng mit Schriftbildern, Symbolen und Illustrationen aus dem persönlichen Umfeld verbunden. Paulus Hochgatterer erzählt in "Katzen, Körper, Krieg der Knöpfe" von solch einem Leselernprozess: "Was das erste Wort war, das ich lesen konnte, weiß ich nicht mehr. Fragt man meine Mutter, so behauptet sie, es sei 'Fleischerei' gewesen, und ich hätt es beim Einkaufengehen mit ihr gelernt."(4)

 

Aus Bildern werden Gedanken, aus Gedanken Worte, aus Worten Geschichten

Während die persönliche Leselerngeschichte Paulus Hochgatterer mit dem Schriftbild der Fleischerei startet, erzählt Shaun Tan in seinem Skizzenbuch "Der Vogelkönig": "Meine Geschichten beginnen zumeist weniger mit Worten als mit Bildern, mit bescheidenen, ziemlich ziellosen Skizzen."(5) Bevor Worte einen Text formen, sind oftmals schon die Bilder da, aus denen sich nach und nach eine Geschichte entwickelt. Renate Habinger zeigt in "Kritzl & Klecks" Schritt für Schritt, wie aus dem roten Klecks ihres Borstenpinsels die Figur entsteht. Ein Aquarellpinsel lässt aus dem Klecks den Körper der Figur wachsen.(6) Die Augen der BetrachterInnen erkennen Gliedmaßen, die Worte "Hände" und "Füße" formen sich in deren Gedanken. Kaum steht zwei Bilder weiter eine fertige Figur auf der bis dahin noch fast leeren Seite des Buches, beginnen sich Fragen herauszubilden: Was wird diese Klecks-Figur als nächstes tun? Wen wird sie treffen? Wohin wird sie sich bewegen? "Wir denken in Bildern und versuchen ständig, sie in Beziehung zu größeren Zusammenhängen zu setzen."(7), betont auch Stefan Hauck in seinem Artikel "Ein Bilderbuch ist eine Entdeckungsreise inmitten bunter Bilder."

 

Das Verstehen der Zusammenhänge, die durch Bilder hervorgerufen werden, begleitet alltägliches Leben ebenso wie die Rezeption diverser, visuell arbeitender Medien. Der Eingang der Lebensmittelhandlung ist durch den Wiedererkennungswert des Logos stets leicht zu finden. Schritt für Schritt entsteht das vorerst noch unfertige Möbelstück, wortlos nur anhand seiner Bauanleitung.

 

Bildleseprozesse sind der Beginn immer komplexerer Handlungen. Sie bringen Wörter hervor, provozieren Gedankengänge und sind Ausgangspunkte, Begleiter oder selbständige Träger von Geschichten.

 

Anmerkungen

(1) Alberto Manguel: Bilder lesen. Aus dem Engl. v. Chris Hirte. Berlin: Volk & Welt 2001. S. 13.

(2) Philipp Waechter: Kuchen bei mir. Weinheim: Beltz & Gelberg 2014. Ohne Paginierung.

(3) Michael Baum: Illustrationen lesen. Zur intermedialen und historischen Differenz am Beispiel von Gullivers Reisen. In: Gudrun Marci-Boehncke/Matthias Rath: BildTextZeichen lesen. Intermedialität im didaktischen Diskurs. S. 39 – 53, S. 40.

(4) Paulus Hochgatterer: Katzen, Körper, Krieg der Knöpfe. Eine Poetik der Kindheit. Wien: Deuticke 2012. S. 84.

(5) Shaun Tan: Der Vogelkönig und andere Skizzen. Aus dem Engl. v. Eike Schönfeld. Hamburg: Carlsen 2011. S. 3.

(6) Vgl.: Renate Habinger/Verena Ballhaus: Kritzl & Klecks. Eine Entdeckungsreise ins Land des Zeichnens & Malens. Nilpferd in Residenz 2014. Ohne Paginierung.

(7) Stefan Hauck: Ein Bilderbuch ist eine Entdeckungsreise inmitten bunter Bilder. Wie Bilderbücher den Blick schulen und an Kunst heranführen. In: Nicola Bardola/Stefan Hauck/Mladen Jandrlic/Susanne Wengeler: Mit Bilderbüchern wächst man besser. Stuttgart: Thienemann 2009. S. 27 – 47, S. 36.

 

 

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