Transmediales Lesen

Geschichten werden in Medien zunehmend transmedial entwickelt und erzählt: Zur Fernsehserie gibt es Facebook-Seiten der Hauptcharaktere, die Handlung von Kinofilmen wird in Computerspielen erweitert oder Menschen können Sendungen mitgestalten. Aber lassen sich diese Geschichten dann überhaupt noch lesen?

AutorIn: 
Dorothea Martin


Seien wir ehrlich, wir alle haben das gemacht: Mit der Taschenlampe unter der Bettdecke gelesen, wie die "Unendliche Geschichte" weitergeht. Im Kino geweint, weil die Titanic untergeht, und nach Filmende brauchten wir noch einen Moment, um zu realisieren, nicht wir sitzen in einem kleinen Rettungsboot auf dem Eismeer. Und dann gibt es diese Augenblicke, in denen man in der U-Bahn alle Blicke auf sich zieht, weil man sich etwas zu laut darüber freut, endlich das verflixte Super Mario Level geknackt zu haben.

 

All das sind Momente, in denen wir uns derart in einer Geschichte verlieren, dass die Grenzen zwischen Realität und Fiktion verschwimmen. Dieser Effekt heißt Immersion, und insbesondere Game Developer, aber auch FilmemacherInnen und AutorInnen versuchen ihn absichtsvoll bei ihren RezipientInnen auszulösen. In den letzten Jahren wurde das Konzept der Immersion herangezogen, um die Begeisterung für eine Art des Geschichtenerzählens zu erklären, die unter dem Label "Transmedia Storytelling" bekannt wurde.

 

Henry Jenkins, einer der führenden Theoretiker auf diesem Gebiet, definierte Transmedia Storytelling als die Kunst, eine Geschichte über mehrere Medien hinweg zu verteilen.

 

Die Besonderheit am Transmedia Storytelling ist dabei, dass jedes eingesetzte Medium – ob Film, Buch, soziales Netzwerk, Webseite, Comic, Webvideo – gemäß seiner individuellen Eigenschaften genutzt wird und einen anderen Teil der Geschichte abbildet.

 

Die Elemente einer transmedialen Erzählung ergeben so ein größeres Ganzes als die Summe ihrer Teile: eine medienüberschreitende Storywelt, die dazu einlädt, darin einzutauchen. RezipientInnen können dabei oft sowohl mit den Inhalten als auch untereinander interagieren. Beispielsweise wenn fiktionale Figuren über Social Media in Kontakt zu ihnen treten, oder sie sich mit anderen über das Erlebte austauschen, vielleicht sogar versuchen, den Fortgang der Story zu beeinflussen. So entsteht eine Plattform für die Kreativität vieler, die beim Erkunden der fiktionalen Welt selbst zu ProduzentInnen werden können (1).

 

Transmedia oder Crossmedia?

Der Begriff Crossmedia - manchmal mit Transmedia gleichgesetzt - bedeutet dagegen das Verteilen ein- und desselben Inhalts auf mehrere Kanäle. Gute Beispiele für die Unterschiede von cross- und transmedial sind die Verwertungen von "Harry Potter" und "Matrix": Bevor die Filmrechte an der Harry-Potter-Reihe an Warner Bros. verkauft wurden, waren bereits einige der Romane erschienen. Die dazugehörigen Filme splitteten einige der Bände auf, doch prinzipiell waren die Inhalte von Film und Buch identisch: Es handelte sich um Adaptionen, also um Crossmedia.

 

Innerhalb des Matrix-Universums dagegen hatte das Publikum mit den neun Animationsfilmen „Animatrix“, dem Computerspiel „Enter the Matrix“ oder Comicveröffentlichungen, die diversen Nebenstorys folgten, die Möglichkeit, zwischen den Filmen tiefer in die Welt und Geschichte einzutauchen. Die unterschiedlichen Medien ergänzten sich inhaltlich.

 

Harry Potter-Autorin J.K.Rowling schlug 2011/2012 mit der Eröffnung ihrer interaktiven Webplattform „Pottermore“ einen transmedialen Weg ein. Hier können Fans alle Bücher tatsächlich erleben. Sie lernen Zaubersprüche, treten einem der Hogwarts-Häuser bei und duellieren sich untereinander. Aber ist das noch Lesen?

 

Transmediales Lesen

Lassen sich über mehrere Medien hinweg erzählte Geschichten überhaupt lesen? Oder revolutioniert Transmedia Storytelling sogar das Erzählen und Rezipieren von Stoffen?

 

Ja und nein. Denn ob wir es wollen oder nicht: Wir sind in unserem Verständnis von Erzählungen und ihrer medialen Darbietung trotz aller Experimente noch an Linearität gebunden. Bei erfolgreichen transmedialen Hollywood-Produktionen hat sich ein System (2) entwickelt, das bekannte Stoffe zu Storywelten ausbaut. Dramaturgisch wird hier seriell gearbeitet. Viele dieser Geschichtswelten basieren auf Comicstoffen, für die dieselben Helden immer wieder belebt wurden und z.T. inkonsistente Entwicklungen nahmen. Mittlerweile gibt es dafür Story Bibles und Brand Manager, die die Konsistenz der Welt wahren.

 

Eine der bekanntesten Storywelten ist aktuell das Marvel Cinematic Universum (MCU). Wer „Captain America“-Comics liest, wird vermutlich auch die „Avengers“-Kinofilme und eventuell sogar die Fernsehserien „Agents of S.H.I.E.L.D.“ oder „Marvel’s Agent Carter“ ansehen. In jedem Teil des Universums rücken andere Figuren dieser Welt in den Fokus und ergänzen das Universum somit inhaltlich. Innovativ ist hier nicht das Storytelling an sich. Die jeweiligen Ableger wie Iron Man oder Agent Carter sind dramaturgisch traditionell aufgebaut und manchmal besser, manchmal schlechter erzählt. Die Herausforderung für die Macher der Storywelten ist die heutzutage mögliche simultane und wiederholbare Rezeption aller Storyteile, da die meisten digital verfügbar sind.

 

Für RezipientInnen bedeutet transmediales Lesen momentan, die einzelnen auf verschiedenen Medien dargebotenen Erzählstränge einer Storywelt zu einem großen Ganzen verweben zu können und wie auf einem Touchscreen zwischen Medien und ihren Inhalten zu "swipen"(3). Wer sein Tablet oder Smartphone zur Erkundung einer Story nutzt, wird schnell in ein Storyuniversum gezogen, das ihn auffordert, einfach zwischen parallel offenen Apps und Browserseiten zu wechseln, um verschiedene Teile der Geschichte zu erleben. Nahezu intuitiv. Das erwarten RezipientInnen auch von ihren Storywelten. Das Marvel Cinematic Universum besteht zwar fast ausschließlich aus Filmen oder TV-Serien. Die komfortabelste Art, sie komplett zu verwalten - mit einem Fingerwischen - ist aber digital.

 

Und das Web braucht immer noch Texte …

 

Literatur:

Anmerkungen:
 

(1) Auf der Buchmesse 2011 schlug die Gruppe um das Transmedia Manifest daher den Begriff "Experiencer" als Ersatz für Rezipient vor.

(2) Federführend ist hier Jeff Gomez mit seiner Firma Starlight Runner zu nennen.

(3) “Swipen” bedeutet, mit dem Finger auf einem Bildschirm den sichtbaren Ausschnitt zu verschieben.

 

 

 

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