Lies mir vor!

Vorlesen im familiären Kontext fördert die Sprachkompetenz und stärkt die Beziehung zwischen Kindern und ihren Bezugspersonen. Vorlesen vor dem Einschlafen heißt, den Tag mit dem Rhythmus einer Geschichte ausklingen zu lassen. Vorlesen im öffentlichen Raum der Bibliothek bedeutet zudem, mittels gezielter Sprachförderung Impulse in der Arbeit mit Eltern, Krabbelgruppen und Kindergärten zu setzen.

AutorIn: 
Christina Repolust


Kinder, denen vorgelesen wird, verfügen über einen größeren Wortschatz als jene, denen diese Anregung im Elternhaus nicht zuteil wurde. Studien u. a. der „Stiftung Lesen“ belegen, dass das Vorlesen auch die soziale Kompetenz der Kinder fördert. Wenn in Öffentlichen Bibliotheken regelmäßig von qualifizierten VorleserInnen Texte, Gedichte, Reime, Kniereiter und Bilderbücher inszeniert und dramatisiert werden, werden hiermit Bildungschancen – Stichworte Wortschatzerweiterung, Empathiesteigerung, Dialogfähigkeit, Merkfähigkeit – erhöht.

 

Vorlesealter

Ein Kind ist nie zu jung, um ihm vorzulesen. Das ist eine wichtige Botschaft der Bibliothek an die Eltern, KrabbelgruppenleiterInnen und Tageseltern. Ein Kind ist auch nie zu jung, um in einer Öffentlichen Bibliothek ein Pappbilderbuch vorgelesen zu bekommen. Kinder haben nämlich bereits, bevor sie sprechen können, ein enormes Interesse an Bildern. So wird das erste Blättern in einem Pappbilderbuch zum ersten Vorlesen: Erwachsene benennen Gegenstände, drücken ihre Emotionen – Erstaunen, Freude, Neugier, Ärger – stimmlich aus, das zuhörende und -schauende Kind nimmt all diese Äußerungen auf und reproduziert sie später beim selbstständigen Blättern. Buch und Emotionen, Gegenstände und deren Namen werden erstmals verbunden.

 

Menschen sind nie zu alt fürs Vorlesen. Wenn Kinder lesen lernen, sind sie zwar stolz auf ihre neue Kompetenz, genießen es aber weiterhin, Bilderbücher, Sachbücher, Gedichte ... vorgelesen zu bekommen. Das Vorlesen und Zuhören, daheim und/oder in der Öffentlichen Bibliothek, ist komprimierte Aufmerksamkeit, Bezogenheit, Dasein im Hier und Jetzt.

 

Vorlesen beginnt mit dem gemeinsamen Betrachten der Bilder sowohl bei Krabbelkindern als auch bei Kindergarten- und Schulkindern. Was erzählt das Bild? Kinder entdecken die Geschichte in der gemalten Fläche, im kühnen Strich und betreten mit jedem Bilderbuch ein neues Museum, das sie noch dazu auf den Schoß nehmen können. Dann erst kommt der Text, sicher und gerade im richtigen Tempo vorgelesen. Bild- und Textebene verbinden sich so, die Geschichte wird lebendig, die Lust, jetzt eine Frage zu stellen, kribbelt auf der Zunge.

 

Dialogisches Vorlesen

Vorlesen ist keine Einbahnstraße, sondern die Einladung, über Bild und Text zu reden. Beim Vorlesen stellen die ZuhörerInnen ihre Fragen, gemeinsam wird eine Antwort gesucht und gefunden. Gezielt gestellte Fragen zu den handelnden Personen, den HeldInnen und deren Gefühlen, intensivieren das Hörerlebnis: Wie ginge es dir an dieser Stelle? Was könnte Max jetzt noch machen? Kennst du das Meer? Wie stellst du es dir vor? So werden eine Seite aus Papier und ein Text zwischen Pappdeckeln zu großen Projektionsflächen der eigenen Gefühle und Ideen, die Welt zu begreifen. Auch wird die sichere Benennung von Gegenständen damit gefestigt, und sogar Fehlhörigkeit könnte erst beim Vorlesen bemerkt werden. Die Konzentration wird Vorlesestunde um Vorlesestunde verbessert, denn VorleserInnen haben keine Wiederholungstaste, jedes Mal ist anders. Kinder müssen daher im Hier und Jetzt ankommen und sind dadurch auch herausgefordert.

 

Vorlesen in allen Sprachen und mit allen Medien

Kinder, denen in ihrer Muttersprache (und zwar in der Hochsprache) öffentlich vorgelesen wird, erfahren eine neue Wertschätzung ihrer Erstsprache. Mehrsprachige Bilderbücher bieten die Grundlage, ein und dieselbe Geschichte in verschiedenen Sprachen zu hören und sprachliche Gemeinsamkeiten und Differenzen zu thematisieren. Dabei ist jede Sprache gleich viel wert, es macht Freude, zu erfahren, wie beispielsweise das deutsche Wort „Wolf“ auf Türkisch heißt.

Auch digitale Medien werden zunehmend zum Vorlesen genutzt. Die Vorlesestudie 2012 der Stiftung Lesen, der Wochenzeitung „Die Zeit“ und der Deutschen Bahn belegt, dass Eltern zu Hause zwar das traditionelle Bilderbuch gegenüber Vorlese-Apps bevorzugen. Unterwegs wird das Bilderbuch aber gern vom Tablet oder Smartphone aus betrachtet und vorgelesen.

 

Rahmenbedingungen von Vorlesestunden

Vorlesen braucht im privaten wie im öffentlichen Kontext fixe Rahmenbedingungen: Bestimmung von Zeitpunkt und Zeitdauer, Festlegung des vorzulesenden Textes, Klarheit über Alter und Anzahl der ZuhörerInnen. Es empfiehlt sich, einen Mix aus längeren und kürzeren Texten anzubieten und spontan zu reagieren, wenn ein Buch so gar nicht bei der Zielgruppe „landen“ kann. Vorlesen mit zusammengebissenen Zähnen ist für niemanden ein Genuss.

Für Vorlesestunden in der Öffentlichen Bibliothek muss gezielt Öffentlichkeitsarbeit betrieben werden: Konzentrationstraining sowie Erhöhung von Sprach- und Sozialkompetenz sind dabei neben Freude, Neugier und Begeisterung die richtigen Schlagworte. Wenn VorleserInnen mit den Kindern in der Folge über die Geschichten, die vorgelesenen Texte, reden, vertiefen sie das Gehörte, können gleichzeitig evaluieren, ob und wie die ZuhörerInnen den Text verstanden und interpretiert haben. Eine Geschichte gemeinsam weiterzuspinnen, macht aus den ZuhörerInnen begeisterte AutorInnen, die Textrezeption geht in Erzählen, in die Textproduktion über.

 

 

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