Zwei Sprachen und mehr

Immer häufiger wachsen Kinder mit mehreren Erstsprachen auf. Dieser Spracherwerb erfolgt im Gegensatz zum Fremdsprachenerwerb ungesteuert und läuft in unterschiedlichen Phasen ab.

AutorIn: 
Gilda Petzold


Kinder sind ohne Weiteres in der Lage, zwei oder mehrere Sprachen zu erwerben. Entgegen früherer Auffassungen, Zweisprachigkeit sei nachteilig für die persönliche Entwicklung und das schulische Lernen der Kinder, gehen viele fachspezifische Meinungen inzwischen davon aus, dass sich Zwei- und Mehrsprachigkeit positiv auf die Entwicklung von Kindern auswirken können – vorausgesetzt, die Rahmenbedingungen stimmen. Bis vor einigen Jahren noch galt Monolingualismus, also Einsprachigkeit, als Normalfall und Mehrsprachigkeit als Ausnahme oder Sonderfall. Auch dieser Blickwinkel hat sich verändert. Weltweit gibt es eine viel größere Anzahl mehrsprachiger Menschen als einsprachige. Eine besonders große Sprachenvielfalt besteht unter anderem in Afrika und Indien sowie in großen Teilen Asiens. Auch in Ländern wie der Schweiz oder Gebieten wie Südtirol wachsen Kinder ganz selbstverständlich zwei- und mehrsprachig auf. Das Thema Zweisprachigkeit/Mehrsprachigkeit ist äußerst vielschichtig, wissenschaftliche Forschung und praktische Auseinandersetzung sind im Fluss, sodass es keine endgültigen Auffassungen gibt.

 

Der Begriff Muttersprache wird verwendet, wenn es um die Sprache der familiären Herkunft eines Kindes geht. Da jedoch auch die Sprache des Vaters eine Erstsprache sein kann, werden zunehmend die Begriffe Erstsprache oder Primärsprache verwendet, um die erste Sprache eines Kindes zu definieren. Es wird zumeist davon ausgegangen, dass ein Kind seine Muttersprache besser beherrscht als später hinzugekommene Sprachen. Erfahrungen zeigen allerdings, dass sich auch viele in Österreich geborene oder sehr früh zugewanderte Kinder aufgrund der deutschsprachigen Schullaufbahn in der deutschen Sprache sicherer bewegen.

 

Mehrsprachigkeit bedeutet, dass jemand sich in zwei oder mehr Sprachen verständigen kann. Dabei wird zwischen individueller Mehrsprachigkeit, die sich auf den einzelnen Menschen bezieht, territorialer Mehrsprachigkeit, die den Sprachgebrauch in mehrsprachigen Staaten oder Regionen meint, und institutioneller Mehrsprachigkeit, das heißt die Verwendung mehrerer Arbeitssprachen in Institutionen, unterschieden. Eine Form von Mehrsprachigkeit ist Zweisprachigkeit. Ein Kind gilt als zweisprachig, wenn es alltäglich in zwei Sprachen kommuniziert und dabei weitestgehend problemlos von einer Sprache in die andere wechseln kann. Dabei kann eine Sprache stärker bzw. dominanter als die andere sein. Dieses Verhältnis der Sprachen zueinander ist dynamisch und kann sich im Laufe eines Lebens sogar mehrmals ändern.

 

Erwerb von Zweisprachigkeit

Im Gegensatz zur Fremdsprache, die systematisch und zielgerichtet im Unterricht vermittelt wird, findet der Zweitspracherwerb natürlich, das heißt ungesteuert, statt. Kinder lernen in und durch ihre Umgebung, zum Beispiel im Kindergarten. Der natürliche, ungesteuerte Zweitspracherwerb basiert auf der intrinsischen, also von innen kommenden, Motivation des Kindes, seine Wünsche und Bedürfnisse mitteilen zu können. Es möchte dazugehören. Erst mit dem Schuleintritt vermischt sich der ungesteuerte Spracherwerb mit dem systematischen, gesteuerten. Der Zweispracherwerb kann sukzessive erfolgen, das heißt, ein Kind lernt erst eine Sprache und dann die andere, oder ein Kind wächst von Anfang an mit zwei Sprachen auf, zum Beispiel wenn die Eltern unterschiedliche Sprachen sprechen. Dies wird mitunter als simultaner Zweitspracherwerb bezeichnet, obwohl auch von zwei Erstsprachen gesprochen werden kann. Manchmal gesellt sich auch noch eine dritte Sprache dazu, wenn Mutter und Vater verschiedene Sprachen sprechen und die Umweltsprache wiederum eine andere ist.

 

Zweitspracherwerb in Phasen

Der ungesteuerte Zweitspracherwerb ist ein kreativer und dynamischer Prozess, für dessen einzelne Phasen Kinder unterschiedlich lange Zeit brauchen. Es gibt wissenschaftliche Erkenntnisse, nach denen Kinder bis zum Ende des ersten Lebensjahres in der Lage sein sollen, die Laute aller Sprachen der Welt wahrzunehmen und zu produzieren. Danach setzt die Konzentration auf die Erstsprache ein. Kinder lernen Zweitsprachen ungesteuert vor allem in der Interaktion mit der Umwelt. Sie beobachten und ahmen nach, verwenden Zeigewörter, bilden eigenständig Wörter und Sätze. Sie wenden unbewusst grammatikalische Regeln an und bilden auch eigenständig grammatikalische Systeme. Sie erschließen sich Bedeutungen aus dem Kontext und lassen für sie bedeutungslose Wörter anfangs weg. Fehler weisen nicht unbedingt auf Defizite hin, sondern können zeigen, dass bereits ein grammatikalisches Verständnis eingesetzt hat. Wenn ein Kind sagt: „Ich lesen Buch“, dann ist die Wortstellung richtig.

 

Zweitspracherwerb in der Familie

In punkto Zweitspracherwerb hat sich auf fachlicher Ebene in den vergangenen Jahren das Vorgehen „Eine Person – eine Sprache“ durchgesetzt. Vater und Mutter sprechen mit dem Kind in „ihren“ Sprachen. Bei gleichsprachigen Eltern wird auf das Prinzip „Familiensprache – Umfeldsprache“ verwiesen. Wichtig für eine positive sprachliche und persönliche Entwicklung eines Kindes ist das konsequente Einhalten dieser Regeln, zum einen, weil Kinder eventuell sprachliche Fehler von Eltern übernehmen, wenn diese in einer für sie ungewohnten Sprache mit dem Kind sprechen. Zum anderen sind Erhalt und Förderung der familiären Herkunftssprache(n) wichtig für die Identitätsbildung und -entwicklung eines Kindes und der gesamten Familie.

 

Der Lernerfolg ist unter anderem abhängig von der Motivation des Kindes, von ausreichenden Möglichkeiten zur Kommunikation, von seiner und der familiären Einstellung zur Zweitsprache, von der Haltung der Umgebung zur Erstsprache des Kindes (Prestige der Sprache) und von der Förderung in Kindergarten und Schule.

 

Besonderheiten beim Zweitspracherwerb

Die Sprachen der Kinder stehen in Kontakt zueinander, sie beeinflussen und ergänzen sich. Dabei können bestimmte Sprachmuster entstehen: Code-Switching ist das Umschalten bzw. Hin- und Herspringen zwischen den Sprachen. Sprachmischen ist das Einmischen einzelner Wörter einer Sprache in die andere. Interferenz ist das Übertragen der Regeln einer Sprache in die andere, zum Beispiel beim Satzbau. Sprachforscherinnen betonen indes zunehmend, dass diese Besonderheiten normale Phasen beim ungesteuerten Zweisprachenerwerb sind und nur bedingt auf mögliche Defizite hinweisen können.

 

Zweitspracherwerb und Lesenlernen

Versuche, Kinder in zwei Sprachen gleichzeitig zu alphabetisieren, wurden wieder verworfen. Erfolgreicher scheint es zu sein, wenn Kinder zuerst in ihrer Erstsprache oder in der stärkeren Sprache lesen und schreiben lernen und danach erst in der zweiten Sprache. Da ein ausgeprägtes phonologisches Bewusstsein entscheidend für den erfolgreichen Erwerb alphabetischer Schriftzeichen ist, brauchen Kinder viele Gelegenheiten zum Hören und Sprechen in der Sprache, in der sie alphabetisiert werden.

 

 

 

Zurück ...