West-östlicher Schleppkahn: Klaus Nüchtern bloggt im Oktober 2014
Könnte Peter Handke mich sehen, er würde mir ganz gehörig den Kopf waschen. Und ganz auszuschließen ist es ja nicht, dass wir uns eines Tages über den Weg laufen – am Alberner Hafen zum Beispiel, wo er wilden Rucola sammeln geht und ich hin und wieder hinradle, um in die Gegend zu schauen und mir dann eventuell im Gasthaus zum Friedhof der Namenlosen eine Essigwurst oder ein Zwiebelschmalzbrot zu genehmigen. Da würde ich dann sitzen und vielleicht in einem Buch lesen, und Peter Handke würde missbilligend den Mund verziehen und sich weit weg von mir an den Tisch neben dem in die Jahre gekommenen Biker-Pärchen setzen.
Vielleicht ist das alles aber auch nur eine paranoide Phantasie, die ich entwickelt habe, weil ich überall lese, und Peter Handke das nicht mag. „Schluss mit eurem Bücherlesen in der Metro – überhaupt in der Öffentlichkeit. Wem wollt ihr bloß derart vortäuschen, dass ihr Leser seid? Das Lesen und das Öffentliche, das schließt einander aus“, heißt es im „Untertagblues“.
Jetzt kommt natürlich sofort der Einwand, dass man den Autor nicht mit seinen Figuren verwechseln darf, aber das ist eine stark überschätzte germanistische Binsenweisheit. Die meisten Autoren behängen ihre Figuren mit den eigenen Meinungen wie einen Christbaum, und ich bin mir sicher, dass Peter Handke Leute, die in öffentlichen Verkehrsmitteln lesen, scheiße findet. Dabei lese ich nicht nur im Zug, in der Schnell- und der U-Bahn und im Bus, wenn der keine Kurven fahren muss, ich lese sogar auf der Rolltreppe. Manchmal bin ich zu faul, die Lesebrille beim Aussteigen abzunehmen, und deswegen schau ich am Bahnsteig oft etwas dämlich drein, denn ich sehe dann alles nur unscharf.
Ich habe diese Umständlichkeiten mittlerweile aber fast lieb gewonnen: Brille ab- und aufsetzen, wegstecken, Buch aus der Tasche kramen oder in dieser verstauen, Bleistift zücken … Ich schreibe in Bücher nämlich rein, unterstreiche Sachen (manche behaupten: alles), nicht mit Leuchtmarker oder Kuli, sondern mit Bleistift, immerhin, aber das findet Peter Handke gewiss auch nicht gut.
Im Oktober bin ich mit einem Roman durch die Gegend gereist und spaziert, der sechs Zentimeter dick ist und ein Kilo und 53 Gramm wiegt. Irgendwie bescheuert, aber es liegt gut in der Hand und verleiht einem ein beruhigendes Sicherheitsgefühl, weil man es jederzeit auch als Waffe einsetzen könnte. Der Alberner Hafen kommt in dem eher west- als eastendorienterten Buch nicht vor, aber die Donau und der Donaukanal spielen eine ganz zentrale Rolle. Radelt man vom Friedhof der Namenlosen rund 13 Kilometer stromaufwärts, gelangt man ins Zentrum des Romans (dem man übrigens auch entnehmen kann, dass die Fahrt gegen den Strom von den Donauschleppkahnmatrosen „Bergfahrt“ genannt wurde), oder sagen wir: an eine bedeutende Schnittstelle. Die meistbetretene Brücke des Romans ist die Friedensbrücke. Sie verbindet den bürgerlichen Alsergrund mit der proletarischen Brigittenau, und während die bürgerliche Trix K. vom Alsergrund ins Büro der heute in Floridsdorf ansässigen, damals aber „weit draußen, unmittelbar am Hauptstrome der Donau“ gelegenen Firma Bunzl & Biach arbeiten geht, besucht der Arbeiter Leo Kakabsa die Mutter von Trix, der die Straßenbahn am 21. September 1925 das rechte „von zwei sehr schönen Beinen“ über dem Knie abgefahren hat. Die beiden, Leo K. und Mary K., werden ein Paar, und so sehr einem das ganze finale Geheirate und die ideologische Konstruktion des Romans auf den Zeiger gehen können, eines kann man ihm ganz sicher nicht vorhalten: dass er ein schlechter Wienführer wäre.
Heimito von Doderers „Dämonen“ ist ein grandioses Wienbuch, das die Donau immer mitdenkt, ja die Stadt wieder an die Donau holt, weil es weiß, dass der Donaukanal „in Wahrheit ein uralter und sehr tiefer, rasch fließender Arm des gespaltenen Hauptstromes“ ist. Die Donau öffnet die Stadt, denn dort, wo „der Strom den Stadtrand anschneidet, dort bricht dieser in großen Stücken ab und steht geradewegs in die eröffnete Weite, mit Kais, Kränen und Lagerhallen, mit Eisenbahngeleisen, mit Werften und Fabriken dahinter, während dies alles, von den dahinfliehenden Wassermassen nachgezogen, gleichsam an den Ufern mitwandert, und in die vom Strome aufgespaltene Fernsicht hinein.“
Die Rede ist, wie gesagt, von der Bunzl & Biach-Brigittenau, es könnte aber auch der Alberner Hafen gemeint sein, dem Ort, an dem die Donau „balkanisch wird“, wie es Peter Handke einmal so schön formuliert hat. Eigentlich kann der gar nichts dagegen haben, dass ich im Gasthaus zum Friedhof der Namenlosen „Die Dämonen“ lese.