Verena Mermer bloggt: Pflichtlektüren

Diktiert uns das Zeitgeschehen, dessen Zeugen wir sind, Pflichtlektüren? Wie laut redet das Gewissen mit? 

Annahme: Eine Verfasserin von sogenannter Belletristik oder hoher Literatur müsste hauptsächlich schöne und schöngeistige Texte in Buchform lesen. Pflichtlektüre wäre etwas für Schulkinder – selbst Mehrfachrepetenten oder Novemberkinder, die in eine HTL oder HAK überwechseln, könnten sie getrost mit 20 hinter sich lassen. Kramen Autorinnen im Kanon herum wie Germanistikstudenten oder Deutschlehrerinnen, als gäbe es nichts neben dem Mainstream, oder suchen sie tagein, tagaus nach besonders raffinierter Experimentalliteratur? Als bestünde die Welt aus Sublimierungen und Erzählperspektiven. Als wäre Internetsurfen nicht Recherche oder Prokrastination, sondern Zerstreuung – und an der Politik anzustreifen eine Ausnahme.

 

Ausnahme? Ist es eine Seltenheit, dass Zeit für Lektüre abgespart werden muss? Zwischen Haupt- und Nebenjobs, Freundschaftsdiensten, der Steuererklärung, einem klingelnden Telefon und unbeantworteten E-Mails. Einem Boden, der nur gekehrt wird, wenn die Staubwolken bereits Eigenleben gewinnen, und einem Kühlschrank, der zumindest sporadisch gefüllt werden sollte. Mein Partner zückt an der Hofer-Kassa die Geldbörse, kommt mir zuvor wie schon in der Vorwoche. Auf mein schlechtes Gewissen erhalte ich zur Antwort: „Sei froh, dass du wenigstens ein schlechtes Gewissen hast. Das spricht für dich in einer Zeit, in der andere gar kein Gewissen haben.“

 

Gewissen: Ist es das, was bei der Lektüreentscheidung mitredet? Oder ist es der Wunsch nach Erkenntnis? Um die Jahrtausendwende begriff ich es erstmals als Pflicht einer mündigen Person, über das Tagesgeschehen Bescheid zu wissen. Englische Nachrichten auf FM4, der damals nur abends und nachts sendete; ein ausgeborgter Falter; Flugblätter diverser Gruppierungen, die auf Demos verteilt wurden und auch vergleichend gelesen werden konnten. Informiert zu sein ist immer noch demokratische Pflicht, verkommt aber oft zur lästigen Verpflichtung in diesen Tagen. Meine derzeitige Lektüre besteht vor allem aus Autobiographien von Antifaschistinnen und Verfolgten. In der Rohfassung des Manuskripts der inzwischen verstorbenen Louise Werner – mittlerweile ist es als Buch erschienen – findet sich die Charakterisierung eines Mitläufers: „[…] er hat eine NAPOLA besucht, eine Eliteschule der Nazis. Er ist aber kein Nazi, er ist gänzlich unpolitisch, wie er sagt.“ Ein nach eigener Definition Unpolitischer, wie es sie heute zuhauf gibt, Zufall, Einzelfall. Ein Schauer über den Rücken, der aber nichts bringt. Ich lese die ungekürzte Fassung des Tagebuchs von Anne Frank, Vilma Neuwirths Glockengasse 29, Margarete Schütte-Lihotzkys Erinnerungen aus dem Widerstand. Die Unpolitischen sagen, sie wollen nichts wissen.

 

Wissen? Eine Erinnerung an meinen letzten Nebenjob, an die – beim näheren Kennenlernen vifen und liebenswerten – Schulkinder, auf den ersten Blick kleine Rabenbraten, 13-Jährige, bei denen das Wort Geschichte schon ein demonstratives Gähnen hervorruft und das Wort NS-Zeit ein genervtes „Nicht schon wieder!“ An Deutschlehrer, die mit Texten zu dem Thema arbeiten – meist emotional aufgeladenen Erzählungen, die tendenziell eher Abwehr hervorrufen. Ich sitze am Schreibtisch und blättere in der Broschüre mit didaktischen Materialien zur Exilliteratur, die der Verein zur Förderung und Erforschung der antifaschistischen Literatur herausgebracht hat. Eine Sammlung, die literarische Zeitzeugnisse und Begriffsdefinitonen in den Vordergrund stellt. Vielleicht: Nicht an das Gewissen appellieren, sondern Verständnis schaffen? Erkennen lassen, was gemeint ist, wenn ein beauftragter Experte vom „migrationsrechtlichen Schrifttum“ spricht, wenn Menschen mit unsicherem Aufenthaltsstatus als „illegal“ bezeichnet werden. Sündenböcke geschaffen werden. Sozialabbau legitimiert wird. Der kalte Schauer über den Rücken wird auch der nächsten Generation nichts nutzen. Rückgrat wird sie brauchen können.

Gastblogger/in

© Vivien Schreiber
© Vivien Schreiber

1984 in St. Egyden am Steinfeld geboren. Studium der Germanistik, Romanistik und Indologie. Arbeitsaufenthalte in Delhi, Baku und Cluj-Napoca. Lebt und arbeitet als Autorin und Literaturwissenschaftlerin in Wien. Zahlreiche Preise und Stipendien, u.a. Exil-Literaturpreis für AutorInnen mit Deutsch als Erstsprache 2016, Aufenthaltsstipendium am Literarischen Colloquium Berlin 2017, Gustav-Regler-Förderpreis 2017. Zuletzt erschienen: „die stimme über den dächern“ (Residenz, 2015), „Autobus Ultima Speranza“ (Residenz, 2018).

 

 

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