Valerie Fritsch bloggt: Der Krieg hat kein weibliches Gesicht
Als Kind bin ich mit dem Krieg aufgewachsen, in Geschichten. Meine Großmutter hat mir solange davon erzählt, bis ich nicht nur von den heraufbeschworenen Bildern geträumt habe, aber auch von jenen, von denen sie schwieg, als gäbe es ein genetisches Gedächtnis. Es war, als hätte mir meine Großmutter ihr Schicksal in den Doppelhelixsträngen der DNA weitergegeben, als hätte sie mir das Dunkel der Luftschutzkeller und den Petroleumgeruch ihrer Zöpfe in den Leib gepflanzt, als hätte sie in meinem Körper die komatöse Stille der Kriegstage haltbar und mir das Sterben bekannt gemacht, als hätte sie mir ihre Bomben von damals auf die Netzhaut tätowiert, dass auch ich sie in jedem grauen Himmel sehen kann.
Swetlana Alexandrowna Alexijewitsch hat ein Buch geschrieben, in dem die Kinder im Krieg aufgewachsen sind und gewachsen, ganz ohne Geschichten. „Der Krieg hat kein weibliches Gesicht“. Ein Buch, von dem ich nächtelang geträumt und an das ich tagelang gedacht habe, das mir unter die Haut und unter die Schädeldecke gefahren ist, wie einst das persönliche Schicksal meiner Großmutter. Ein Buch, in dem die sowjetischen Mädchen von damals die heutigen Großmütter sind, die ihre Geschichten der Autorin erzählen. Ein Buch, das sagt, dass man ohne den Gedanken an den Tod nichts im Menschen verstehen kann. Auf den Seiten tut sich eine Welt auf, die es einem schwer macht zu glauben, dass ebendiese Welt für den Menschen je wieder ein bewohnbarer Ort werden konnte. Die fünfzehnjährigen Mädchen, die freiwillig und selbstverständlich an die Front gingen, als Scharfschützinnen und Zugführerinnen, als Pionierinnen und Aufklärerinnen, als Fliegerinnen und Panzersoldatinnen, ihre langen Zöpfen abgeschnitten zurückließen und in viel zu riesenhafte Stiefel stiegen, um zu kämpfen. Die noch Zentimeter in die Höhe wuchsen und als Krankenschwestern am Oberschenkel amputierte Beine aus dem Operationssaal trugen halb so groß wie sie selbst. Die unter Beschuss Männerkörper aus brennenden Panzern zogen, die ihr eigenes Körpergewicht dreimal überstiegen. Die jedem Sterbenden noch einmal sagten, dass sie ihn liebten, sahen sie ihn auch zum ersten Mal, denn kurz vor dem Tode wollte keiner je anderes hören. Die vorbeiwanderten an toten Müttern im Wald, deren Kinder die Leblosen an den Rockfalten zupften, um um Essen zu bitten und darum, dass sie doch wieder aufwachten. Diese eine Million sowjetischer Frauen, die, wenn sie überlebt hatten, mit Tapferkeitsmedaillen dekortiert zurückkehrten in ein Land der aufgewühlten Erde, eine Landschaft wie ein einziges Grab, und als Soldatenmädchen geächtet wurden, dass die Daheimgebliebenen ihnen so viel Salz in jede Suppe schütteten, dass sie ungenießbar wurde. Und doch erzählten sie alle vom Kriegsende: Auf einmal wollte ich schrecklich gern leben.