Simon Hadler bloggt: Der genervte Rezensent
*Düdüm*. Mail notification. Nein, oder? Jetzt geht das wieder los. Bitte – wir haben März. Die StreberInnen vom Ullstein-Verlag sind wieder einmal die ersten: „Programmvorschauen Herbst“. Der Preis für das dickste PDF der Mailbox geht an Ullstein, wenig später durch Rowohlt vom Thron gestoßen. „Dü-Dü-Düdüm“. 10. April. Im Ordner „Literatur“ 27 ungelesene E-Mails. Ende April, Michi hat zu schleppen, „heute ist es viel für dich“, sagt sie; jeden Tag mehr der braunen, dicken Pappkartonkuverts. Geschenkbücher, Strandbücher, Ratgeber, Esoterik, Katzenbücher; Katalog um Katalog wird der Stapel höher, zuerst drei Zentimeter, zwei Tage später zehn, dann vierzig. Mitte Mai ist der Turm auf seine obligatorischen eineinhalb Meter angewachsen, ein Turm, der seinen Schatten wirft, der vorwurfsvoll auf mich herniederblickt, der abgearbeitet werden will, der so tut, als hätte man sonst nichts zu tun, keine gefühlt Tausenden Mails pro Tag zu beantworten, keine Redaktionssitzungen auszusitzen, keine Artikel zu schreiben, keine Diskussionen mit KollegInnen zu führen, wer wann auf Urlaub gehen darf.
*Düdüm*. Man habe sich doch einmal kennengelernt bei der einen Geburtstagsparty und nett geplaudert, und jetzt sei es so, dass der Onkel vom Land in der Pension Gedichte zu schreiben begonnen habe, und die seien jetzt als Buch erschienen, im Selbstverlag zwar, aber total ur super und ob es nicht vielleicht möglich wäre … *Düdüm*. *Düdüdüdüm*. Noch ein Onkel, noch eine Tante, noch ein bester Freund. 5. Juni. Im Ordner „Literatur“ 173 ungelesene E-Mails.
Den Stapel aufteilen, sitzen, schwitzen, Stunde um Stunde, der Turm wird kleiner und kleiner, die Texte, es sind Tausende, gleichen einander aufs Haar; irgendein Superlativ geht immer: Hier „Einer der besten slowenischen Krimis des Jahres“, dort ein frenetisches Lob der VerlagskollegInnen, hier „ein Pageturner, der seinesgleichen sucht“, dort „eine echte Sensation“. Die Bücher der Saison verschwimmen zu einem einzigen großen Buch, auf dessen Cover in großen Lettern geschrieben steht: „Nimm mich!“ Zuerst eine Liste von 200, dann runtergedampft auf 100, dann Mails an 62 Verlage mit dem Betreff „Bestellung Rezensionsexemplar“.
28. August. Michi steht der Schweiß auf der Stirn, „die sind alle für dich“ – sie versucht, es nicht vorwurfsvoll klingen zu lassen, während sie die Pappkartonkuverts, jetzt noch schwerer, auf dem Schreibtisch ablegt. Buch um Buch, bald ist die Fensterbank voll, dann das Regal, am Ende doppelte Schlichtung. Bei jedem neuen Kuvert die Hoffnung, es mögen die tatsächlich bestellten Rezensionsexemplare dabei sein, um festzustellen, dass es wieder die mutmaßlichen Ladenhüter der Verlage sind, mit lieben, handgeschriebenen Zettelchen versehen: „Das könnte Ihnen gefallen, so, wie ich Sie kenne.“ Also die Bestellungen urgieren. Lesen im Akkord, oft nicht einmal Bücher, sondern unhandliche ausgedruckte PDFs der Korrekturfahnen, noch dazu nicht unbedingt das, was einen selbst interessiert, sondern das, was die LeserInnen interessieren könnte.
Heuer fühlt sich das anders an. „Wirklich wahr! Die Welt zwischen Fakt und Fake“: Im Deuticke-Katalog eine Doppelseite zu meinem Buch – und noch eine in der Hanser-Vorschau, weil Deuticke zu Hanser gehört. Viele schöne Worte im Werbetext. Sehr schöne Worte. Alle wahr. Ich sollte der Kollegin von der Zeitung schreiben, mit der habe ich mal bei einer Geburtstagsparty nett geplaudert. Und dem Kollegen vom Radio, der in der Kantine einmal neben mir gesessen ist. Die werden sich freuen, die interessiert mein Buch sicher. Und dann verschicke ich ausgedruckte PDF-Korrekturfahnen, weil die RezensentInnen da draußen bestimmt nicht so lange warten wollen, bis das Buch fertig ist. Ich sende es schon auch an die, die kein Interesse bekundet haben. Die haben das übersehen im Katalog. Sonst hätten sie sicher …