Schneehoffen, Fährtenlesen: Julya Rabinowich bloggt im Dezember 2014
Im Dezember überfällt mich üblicherweise eine russische Wintersehnsucht. Diese Sehnsucht manifestiert sich in imaginiertem Rückzug. Der Blick aus dem Fenster sollte unbedingt ein Schneegestöber im dunkler werdenden Blau bieten. Das Sofa vorgewärmt von Katzen.Tischchen mit einer Teekanne aus blauem Gschel-Porzellan meiner Kindheit, einem gestrickten roten Plaid und einem Stapel Klassiker, die ich als Kind erzwungenerweise las und als Teenager natürlich wieder vergessen hatte. Bis auf Dostojewskis "Idiot", der mich so erschütterte, dass er im Bewusstsein blieb, sowie "Meister und Margarita" von Bulgakow. Auch empfehlenswert: "Der Spieler" zum Beispiel, den ich in der neuen Übersetzung auch auf Deutsch sehr überzeugend finde. "Krieg und Frieden" ist leider noch immer nicht bewältigt. Ich habe es wieder einmal nicht geschafft, habe aber eine wunderbare Ausrede: Der ganze Dezember war ein Fake, kein Winter weit und breit und damit auch keine Rückzugsphantasien.
In Russland wird sicherlich unter anderem deswegen so viel gelesen, weil man so viel Schnee zur Verfügung hat. Die einen lesen Fährten im Schnee, die anderen eben Bücher. Bei Plusgraden wollte sich das Russische nicht recht einstellen. Als Motivation wiederholte ich eines meiner Lieblinge von Pelewin: "Das heilige Buch des Werwolfs". Die Geschichte der angeblich minderjährigen Prostituierten, die eigentlich ein Werfuchs und tausende von Jahren alt ist, und deren Betrachtungen der Formwandlerdiaspora weltweit, durchsetzt mit buddhistischer Meditation und skurrilsten Begegnungen von Polizeiinspektion bis Nomenklatura, ist so bulgakowinspiriert wie kaum eine andere. Keiner kann in Bulgakows Tradition derzeit Phantastisches, Skurriles und Politisches virtuoser verknüpfen als Pelewin.
Die Energie, völlig Neues zu lesen fehlte, auch, weil ich gerade selbst ein Buch fertiggeschrieben habe. Danach stürzte ich mich ein zweites Mal über "London N-W" von Zadie Smith. Das Wetter blieb eindeutig englisch.