Sandra Kegel bloggt: Blühende Bücherstapel

Krokus, Birnbaum, Redaktionsschluss – die Journalistin und Literaturkritikerin Sandra Kegel weiß, wie der Frühling für ihre Berufsgruppe aussieht. Nämlich vor allem arbeitsreich.

Frühjahr und Herbst sind Jahreszeiten, die spurlos an mir vorüberziehen. Denn das sind die Jahreszeiten der Verlage – und die haben sich mit ihren Neuerscheinungen dem Kreislauf der Natur angepasst. So wie der Frühling in drei Phasen kommt, stellt es sich auch mit der Buchproduktion dar. Der Vorfrühling, wenn sich draußen Krokusse und Haselnuss durch den letzten Schnee kämpfen, trudeln die ersten Verlagsankündigungen, meist kommentarlos und als schlichte Word-Dokumente per Mail bei mir ein.

Es sind zarte Vorboten dessen, was dereinst zu erwarten ist: Da stehen Namen in alphabetischer Reihenfolge, außerdem Buchtitel, das Erscheinungsdatum, aber bis dahin ist es noch lang hin. Der Erstfrühling dann, draußen bringen Forsythien und Birnbäume erste Farben ins Bild, treffen die Programmvorschauen ein. Per Post, auf Papier – nein, auf Hochglanzpapier, teilweise so dick wie die „Landlust“. In ganzer Farbpracht sind die Broschüren mit großen Bildern und vielen Stimmen ein einziges Versprechen. „Noch nie dagewesen...“, „Eine irrwitzige Verwechslungsgeschichte...“, „Das spannendste Debüt der Saison...“ Aber erst, wenn draußen die Apfelbäume blühen, der Flieder und der Wiesenfuchsschwanz, wird es ernst – und in meinem Büro dunkel. Nicht etwa, weil die lang ersehnte Sonne nicht scheinen würde, das tut sie durchaus, sondern weil ich sie nicht mehr sehe. Denn im Vollfrühling kommen die lange angekündigten Bücher. Bald sind es so viele, dass sich auf meiner Fensterbank eine Wand auftürmt, die irgendwann an die Decke stößt. Jetzt ist der Blick nach draußen endgültig versperrt, und es gibt es nur noch eins: Deckenlicht an und lesen. Statt im Taunus zu wandern übersiedele ich auf die Couch, wahlweise auch ins Bett, an den Küchentisch oder in den Ohrensessel, denn gelegentliche Standortwechsel sind knochenbedingt nötig: Ich besuche mit einem mehrfachen Prostituiertenmörder dessen Stammkneipe auf der Hamburger Reeperbahn und werde Zeuge unfassbaren Elends. Ich ziehe mit einem gescheiterten Historiker und dessen kleiner Familie raus in die brandenburgische Provinz, um zu erleben, wie der Berliner, der als Vogelwart nun das wahre Leben führen will, bald alles verliert. Ich entdecke einen Mann, der in naher Zukunft, die es den Menschen erlaubt, sich mit Pillen zu verjüngen, seine Frau  im Keller einsperrt, ich folge einer kleinen Gruppe, die sich vor dem Weltuntergang in die Alpen geflüchtet hat. Und in einer norddeutschen Küstenstadt, die von einer Jahrhundertflut heimgesucht wird, findet dann wirklich das Ende von allem statt.

 

Das ist der Stoff, aus dem mein Frühling besteht. Innere Hochspannung bei äußerer Bewegungslosigkeit. Gut, dass bald der Sommer kommt.

Gastblogger/in

Sandra Kegel, geboren in Frankfurt am Main, studierte in Aix-en-Provence, Wien und Frankfurt Germanistik, Romanistik sowie Theater-, Film- und Medienwissenschaft. Nach dem Magister arbeitete sie als freie Journalistin. Seit 1999 ist sie Redakteurin im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, dort im Ressort Literatur und Literarisches Leben. Sie hat das Reiselesebuch „Paris“ herausgegeben und ist Mitglied mehrerer Literaturpreisjurys. Ausgezeichnet mit dem Ravensburger Medienpreis.

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