Robert Prosser bloggt: Vor der Kamera
Anfang Februar steh ich im Berliner Humboldthain, erst auf der im Zweiten Weltkrieg errichteten Bunkeranlage, den mit Graffs übersäten Resten eines Flakturms, später auf einer nahe der S-Bahngleise gelegenen Lichtung des weitläufigen Parks. Die Temperatur geht gegen Null, aber ich versuch, für Fotoshoot und Videodreh möglichst entspannt zu wirken. Porträts für die im März kommende Verlagsvorschau sollen angefertigt, Filmmaterial für einen Buchtrailer gesammelt werden; ich muss aus jenem inneren Bereich, in dem einzig das Recherchieren und die Romancharaktere, die Sätze und der Rhythmus der Sprache existieren, ins Außen überwechseln, in dem Diskussionen über Covergestaltung oder Klappentext das Ende eines Schreibprozesses einläuten, der mit dem Erscheinen des Buchs diesen September endgültig sein wird. Etwas mehr als drei Jahre habe ich daran gearbeitet, drei Jahre, in denen ich für die Recherche vorwiegend in der Posavina und im bosnischen Osten entlang der Drina unterwegs war. Die Handlung kreist um eine junge Bosniakin, die 1992 aufgrund des Krieges nach Wien flüchtet, eine zusätzliche Ebene erzählt aus der Perspektive eines Wiener Graffiti-Sprayers von der bosnischen Gegenwart, etwa von der 20-jährigen Gedenkfeier des Genozids in Srebrenica.
Im Juli 2013 war ich, aus Albanien kommend, erstmals im Land, ein kurzer Aufenthalt in Sarajevo, um nach zwei Tagen per Bus nach Zagreb und von dort nach Wien zu gelangen. Dieser Zwischenstopp brachte das Eingeständnis mit sich, kaum etwas über Bosnien zu wissen. Aus Neugier begann ich in den folgenden Monaten, in Wien Interviews mit Menschen zu führen, die es aufgrund des Jugoslawienkrieges nach Österreich verschlagen hatte, Persönlichkeiten, die als Elektriker oder Lehrer fest im gegenwärtigen, österreichischen Alltag stehen, deren Existenzen jedoch auf traumatischen Erlebnissen von Gewalt, Tod und Flucht gründen. Ich stieß auf etliche, jetzt kaum vorstellbare Details der damaligen Flüchtlingspolitik, der durchdachten Organisation der Lager und der generell hohen Hilfe der Bevölkerung, und ich lernte, Wien tiefgehender zu lesen, da ich bestimmte Graffitis, T-Shirt-Aufdrucke oder Tätowierungen nun ihren serbischen, bosniakischen oder kroatischen Hintergründen zuordnen konnte. Die Bekanntschaften mit der ex-jugoslawischen Diaspora verhalfen mir zu Kontakten nach „Unten“, um weitere Leute zu treffen und die in Wien gesammelten Geschichten mit realen Orten zu verbinden. Das Buch ist das Resultat meiner Versuche, mir ein Land zu erschreiben und dessen Vergangenheit und Gegenwart zumindest ein wenig zu verstehen. Bosnien scheint mir exemplarisch für vieles, das in Westeuropa – gerade wieder – passiert: das Erzeugen von Feindbildern, die mediale Manipulation, die Macht der Propaganda, der inszenierte Kampf zwischen Christentum und Islam - das alles ist in Bosnien ständig präsent. Ich bin dort auf Fragen gestoßen, die mich seither umtreiben: Wie geht man mit den Erfahrungen von Krieg und Flucht um? Wie bewahrt man die eigene Erinnerung vor dem Missbrauch durch nationalistische Politik? Oder, wenn ich an die Jugendlichen denke, mit denen ich in Tuzla zu tun hatte, der Stadt, in der im Februar 2014 jene Proteste begannen, die schnell etliche weitere Städte Bosniens ergriffen: Wohin mit all der Energie und mit dem Frust, dass die EU als Versprechen von Glück und Zukunft so nahe ist, dieses Versprechen aber nie eingelöst wird? Wie mit dieser latenten Perspektivlosigkeit umgehen? Es sind Fragen, die Anliegen berühren, die weit über Bosnien hinausreichen, die in Sarajevo ebenso Bedeutung haben wie in Wien, und es sind Fragen, die durch das Schreiben nicht beantwortet, sondern vielmehr drängender, wichtiger geworden sind. In Berlin sehe ich in eine Kameralinse und versuche, diese Gedanken in einer Weise auszusprechen, die für ein knapp zweiminütiges Trailervideo taugt. Es ist ein schwieriges Vorhaben, und ich ahne, dass mich das Buch noch lange nicht freigegeben hat, es erscheinen wird, ohne, dass ich selbst mich daraus gelöst hätte.