Klaus Zeyringer bloggt über Lesezeiten: Gibt es Jahreszeiten der Lektüre?

Andruchowytsch ist Frühling, Boyle sonnenwarme Terrasse und Felix Dahns Ostgoten marschieren zu Pink Floyd. Germanist und Literaturkritiker Klaus Zeyringer über Lesarten und Lesorte.

Gibt es Jahreszeiten der Lektüre?

Saisonale Bilder von Lesesituationen gewiss. Ein graunasses Draußen im Rücken des Fauteuils, oder auf dem Sofa die Schneehelligkeit des Daches von gegenüber. In der Liege dem grünen Rundflausch des Tales oder dem Wellenglucksen der gleißenden Meeresbucht zugewandt. Die Bandbreite der Literatur in Gezeiten der Gedichte und Erzählungen. Kapitel im Flug und in einem Zug, Seiten der Wartesäle und Caféterrassen, die Bettlektüre sowieso unter der Decke einer eigenen Saison. Aus der Buchvertiefung taucht man bisweilen mit halbem Gesicht für einen Augenblick auf, so verknüpft sich der Text mit einer anderen Umwelt.

Andererseits könnte ich mich hier darüber auslassen,

dass der Kunstsenat, seinerzeit vom Austrofaschismus erfunden, zwar seinen Aufgaben nicht gerecht wird, aber den Staatspreis im Seilschaftsmodus vergibt;

welchen Kanon das Österreichische Literaturmuseum ausstellt;

dass Abbildungskraft offenbar höher im Kurs steht als Einbildungskraft;

dass Verlage zunehmend junge Frauenbilder, alte Berühmtheiten aller Art und Krimis allerorten bevorzugen...

 

Lieber frage ich mich, welche Jahreszeiten der Lektüre es gibt.

Als Jugendlicher hörte ich Atom Heart Mother von Pink Floyd, während ich Felix Dahns Kampf um Rom las, vor meinem Ohrauge marschieren bis heute die Ostgoten zu den modernen Akkorden der Elektrogitarre und der Bläser. Es dürfte Herbst gewesen sein, oder gibt mir nur das Plattencover mit der Kuh diesen Eindruck?

Die Lesesozialisation war Kraut und Rüben. Die Erinnerung sieht mich im Internat mit Heinrich Harrers Eiger-Nordwand-Buch Die weiße Spinne zugleich und mit dem Rowohlt-Paperback Die Wiener Gruppe in der Hand. Früher natürlich mit Karl May. Natürlich?

Kürzlich war im Amerika-Institut der Münchner Uni Chief Louie zu Gast, dessen Stamm im Grenzgebiet Kanada-USA lebt. Wie es komme, dass sich die Deutschen so auffallend für Indianer interessieren, fragte er ins Publikum. Betretenes Schweigen. Bis eine Stimme, es klang nach schlechtem Gewissen, erklärte: „Winnetou, Karl May“. Dem Häuptling sagten die Namen nichts.

Ich hatte Ali Baba, Sindbad den Seefahrer und jugendfreie Kollegen aus Tausendundeine Nacht kennengerlernt, die Rahmenhandlung freilich nicht. Dass die Nacherzählungen für Kinder immer noch mein Orient-Bild besetzen, musste ich erkennen, als ich mit Dževad Karahasan den ersten Teil seines Romans über Omar Chayyam debattierte.

Die Zeiten der Sprachkunst begannen für mich mit dem Wiener-Gruppe-Paperback. Artmanns ringlgschbüübsizza lernte ich auswendig, Achleitners Lehrsatz „Waun da sundog ned warad und i, gabads auf da gaunzn wööd ka ruhigs platzerl“ hängte ich mir an die Wand. Als ich dies Jahrzehnte später Friedrich Achleitner in seinem Atelier erzählte, sah ich über seinem Schreibtisch ein Foto von Karl Valentin, der offenbar also nicht nur mich stark beeindruckt hatte.

Wenn nun oft Verlagstermine, Rezensionen, Moderationen Lektürezeiten bestimmen, so meine ich mir doch ruhige Kraut-und-Rüben-Plätze einrichten zu können. In den Wochen am Meer lag ich mit der Millenium-Trilogie von Stieg Larsson in der Lesenische, während darunter das Wasser am Fels schmatzte, auch mit Šteger und Schmatz. Mit ihnen sah ich Sommerbilder neben den Seiten. Juan Rulfo wollte ich partout nicht zu Allerheiligen aufschlagen, nach jedem Kapitel Jančar lag etwas mehr Schnee auf dem Balkongeländer. Juan Gabriel Vásquez kommt mir immer unter, wenn hierzulande der graukalte Winter kein Ende in Aussicht stellt. Modiano in Bahn und Flieger aus Westfrankreich nach Wien, seine Pariser Erinnerungsgänge in meiner inneren-äußeren Reise. Für die großen Romane von Péter Nádas brauche ich viele ruhige Tage, Andruchowytsch ist Frühling, Boyle sonnenwarme Terrasse. Bei Anna Kims Anatomie einer Nacht wäre mir kalt geworden, hätte ich nicht die feine Sprachkunst und die Hitze der Hochsommerstadt gespürt.

Die Buchrücken im Regal zeigen Lesarten und Lesorte.

Gastblogger/in

Klaus Zeyringer
Klaus Zeyringer (c) Haymon Verlag

Klaus Zeyringer, geboren 1953 in Graz, habilitierte sich dort 1993 und war Universitätsprofessor für Germanistik in Frankreich. Er ist als Literaturkritiker u.a. für den »Standard« tätig sowie Jurymitglied der ORF-Bestenliste, moderiert in Österreich, Deutschland und der Schweiz. Zuletzt erschien von ihm im S. Fischer Verlag ›Fußball. Eine Kulturgeschichte‹ (2014).

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