Heinz Janisch bloggt: Bilderbücher für Alle!
Ich gestehe:
Ich bin 56 Jahre alt, und ich lese Bilderbücher.
Ich liebe Bilderbücher. Ich verschenke auch gern Bilderbücher.
Besonders gern an Kinder, weil sie Weltmeister im Schauen, Entdecken und Lesen von Bildern sind.
Oft schenke ich Bilderbücher auch Erwachsenen. Vor allem Erwachsenen, die keine Kinder haben. Das hat einen guten Grund.
Erwachsene, die keine Kinder haben, kommen nie in jenen fernen Bereich der Buchhandlung, der „Kinderabteilung“ heißt.
Jedes Bilderbuch ist ein Doppelgeschenk. Man bekommt eine Geschichte geschenkt - und eine Ausstellung dazu, eine Ausstellung in zwölf, vierzehn magischen, rätselhaften, phantastischen Bildern.
Oft ist ein Bilderbuch die erste Kunst-Ausstellung, die Kinder zu sehen bekommen. Eine Ausstellung im Museum sieht man im Vorbeigehen. Dann ist man erschöpft, das Museum wird wieder verlassen. Die kleine Kunstausstellung namens Bilderbuch bleibt in der Nähe, sie ist jederzeit griffbereit im Regal. Jedes Bild bleibt überprüfbar: War da nicht ein blauer Schimmer auf dem Federnkleid des Vogels? Sieht der Berg dort hinten nicht wie ein Kuchen aus, mit kleinen Löffelbäumen darin?
Rätsel über Rätsel, Fragen über Fragen.
Ein Bilderbuch setzt eigene Geschichten in Gang, Bild für Bild.
Ich liebe Bilderbücher.
Ich gehe in die Buchhandlung und wähle lange und sorgfältig aus. Ich werde das Buch oft in der Hand haben, die Worte und die Bilder mehrmals und immer wieder lesen, mit Kindern, aber auch allein, also nehme ich mir Zeit beim Einkauf. So wie der Weinkenner auf seinen edlen Tropfen besteht, so bin ich auch beim Bucheinkauf auf Qualität aus. Das Buch muss sorgfältig gemacht sein. Einband, Papier, Fadenheftung, Druck und Typographie müssen signalisieren: „Hier wartet ein besonderes Buch auf Dich! Eine Kostbarkeit! Wir haben uns Mühe gegeben, also lass dir Zeit beim Schauen und Lesen.“
Weinverkostungen gibt es viele im Land. Es wird Zeit für Bilderbuch-Verkostungen in vielen Buchhandlungen!
Ahhh, ein guter Jahrgang!
Weinkenner werfen einander gern Namen zu, beim Einkauf, Namen von Weinbauern, die für Qualität stehen. So möchte ich Buchliebhabern Namen zuwerfen, wenn sie nach einem Bilderbuch Ausschau halten: Wolf Erlbruch, Jutta Bauer, Aljoscha Blau, Isabel Pin, Helga Bansch, Linda Wolfsgruber, Hannes Binder, Selda Marlin Soganci, Peter Sis, Michael Sowa!
Und die Liste ließe sich noch lange weiterführen...
Manche Bild-Künstlerinnen und Künstler kommen vom Bühnenbild, andere von der Werbung, von der freien Malerei oder von der Graphik. Sie alle sind Meisterinnen und Meister ihres Fachs.
Alle haben sie ihren eigenen unverwechselbaren Umgang mit den unterschiedlichsten Materialien, ob sie nun mit Holz, Papier, Textilien, Wachsstiften, Ölfarben, Kohle, Bleistift oder Kreide arbeiten. Da wird gezeichnet, gemalt, geritzt, geklebt, gerissen... Genau das macht die Welt der Bilderbücher so spannend.
In vielen Bildern wird mehr sichtbar, als der Text neben dem Bild erzählt, da wird mehr spürbar, als in wenigen Sätzen sagbar ist.
Spannende Bilder erzählen über den Text hinaus, um ihn herum, an ihm vorbei, sie kreisen ihn ein, führen ihn weiter, sie erweitern den Blick und geben den Figuren und Erlebnissen den Freiraum, der ihnen zusteht.
Kein Wunder, dass ich als Kind - nach einem Zauberwort befragt - stolz sagte: „Umblättern!“
Bilder sind Sprache.
Schade, dass die Erwachsenen für das Bilderbuch und für die Sprache der Bilder oft so wenig übrig haben. Haben sie sich zu sehr an die rasche Bildfolge im Fernsehen und im Kino gewöhnt? Fehlt ihnen der lange, geduldige Blick?
Anspruchsvolle Bilderbücher nehmen ihre Leserinnen und Leser, ihre Betrachterinnen und Betrachter ernst – es sind Bücher für Kinder und Erwachsene.
In diesem Sinne: Bilderbücher für alle!