Barbi Marković bloggt: Jeder für sich
Nach der Lesung stehst du oft alleine herum mit einem Bier in der Hand. Später duschst du dich im Hotel und verstöpselst deine Ohren. Am nächsten Tag fährst du weiter. In der Literaturwelt gilt: jeder für sich. Keiner von uns weiß, wie er seinen letzten Text geschrieben hat und wie er den nächsten schreiben wird. Wir müssen immer ein bisschen lügen (über unseren Arbeitsprozess), und das macht die Teamarbeit schwer. Deshalb überlegen sich manche Veranstalter, wie man Autorinnen zum Austausch zwingen kann. Von Dichterpilgerfahrten über translinguale Busgefängnisse bis zu sozialen Experimenten. Das sind meine drei Lieblingsabenteuer.
- Ohlsdorf. Doppelgänger
Ich war eingeladen, auf einem Ausflug zu Thomas Bernhards Haus in Ohlsdorf zur Einstimmung im Bus zu lesen. Ich saß vorne auf dem Platz des Reiseleiters, die Fahrt war unruhig, und das Mikrofon flog mir immer wieder ins Gesicht. Das Publikum aß Sandwiches und trank Säfte und Jägermeister, während ich mich bemühte, möglichst interessante Stellen vorzulesen. Kaum dass wir Ohlsdorf erreicht hatten, wurden wir in die lokalen Streitereien um das Dichtererbe hineingezogen. Eine Frau stieg ein und erzählte, dass die Gemeinde Ohlsdorf überall in der Gegend Ohrensessel aufgestellt und jede glatte Fläche mit Zitaten aus Thomas Bernhards Büchern versehen hatte, und trotzdem gingen Geld und Aufmerksamkeit an die relativ nahe Familie des Dichters - wegen des Hauses. Thomas Bernhards Haus in Ohlsdorf war ein Bauernhaus. Vor dem Eingang stand eine kleine Holzvitrine. Während wir auf die Führung durch das Haus warteten, wählten wir Produkte mit seinem Gesicht, die am besten zu uns passten. In der Holzvitrine standen ein Thomas-Bernhard-Schnaps, ein Thomas-Bernhard-Honig und ähnliche Artikel. In der offenen Garage des Nebenhauses war ein großes Ölporträt von Bernhard ausgestellt, und auf dem Tisch daneben standen viele Exemplare eines Buchs zu Verkauf, das der Nachbar über den Dichter geschrieben hatte, in dem er alles beschrieben hatte, was er über die Jahre als Nachbar Thomas Bernhards sehen hatte können. Wann empfing dieser Besuch, wer wurde empfangen und was konnte man von außen beobachten. Schließlich kam ein Mann, der vom Rede- und Kleidungsstil Thomas Bernhard überraschend ähnelte, und begrüßte uns.
- Crowd. Janteloven
Wir zehn Teilnehmer an einem literarischen EU-Projekt namens Crowd hatten nicht genug Taschengeld, um in Norwegen gemeinsam zu trinken. Zum Essen kauften wir Tomaten und Brot in Tankstellensupermärkten. Meistens saßen wir alleine auf unseren Sitzplätzen und lasen oder schrieben. Acht Tage lang beobachteten wir wunderbare norwegische Landschaften aus dem Busfenster und machten verschwommene Fotos. Man ließ uns nur dann aus dem Bus raus, wenn wir in einer Stadt eine Lesung hatten. Da wir unterschiedliche Muttersprachen sprachen und alles ins Norwegische übersetzt war, verstanden wir nicht, was die anderen lasen, aber das war vielleicht gut. Zu den Lesungen, die schlicht als „Dichterlesung“ ohne unsere Namen angekündigt waren, kam niemand. Wir wurden ein wenig depressiv. Am siebten Tag setzte sich ein finnischer Kollege zu mir und erklärte, dass diese Reise zwar vielleicht schlecht für unsere einzelnen Psychen sei, durchaus aber gut für das Projekt. Er erzählte mir von Jantes Gesetz. Es ist ein einfacher Verhaltenskodex und stammt aus einem Buch von Aksel Sandemoses. Hier sind also die zehn Gebote Jantes und die Ergebnisse des literarischen EU-Projekts Crowd:
- Du sollst nicht glauben, dass du etwas Besonderes bist.
- Du sollst nicht glauben, dass du uns ebenbürtig bist.
- Du sollst nicht glauben, dass du klüger bist als wir.
- Du sollst dir nicht einbilden, dass du besser bist als wir.
- Du sollst nicht glauben, dass du mehr weißt als wir.
- Du sollst nicht glauben, dass du mehr wert bist als wir.
- Du sollst nicht glauben, dass du zu etwas taugst.
- Du sollst nicht über uns lachen.
- Du sollst nicht glauben, dass sich irgendjemand um dich kümmert.
- Du sollst nicht glauben, dass du uns etwas beibringen kannst.
- Čelobrdo. Korruptionsworkshop
Es wäre alles besser gewesen, wenn wir im Rahmen des Korruptionsworkshops zumindest irgendwohin gehen hätten können, aber wir waren Fußgänger und der Weg zum nächsten Supermarkt war steil und lebensgefährlich. Deshalb verbrachten wir sieben Tage damit, einander in die Gesichter zu starren, im Versuch festzustellen, wie viel bis zur Explosion bzw. zum Wahnsinn. Nach der ersten Diskussion, im Zuge derer eine furchterregende Menge Schnaps (das montenegrinische Kokain) getrunken wurde, ging das Thema zur Hölle, und manche von uns widmeten sich den Reizen der Natur. Wir spazierten durch das umliegende Dickicht und wunderten uns über das Konzept, ein paar Autoren auf einem montenegrinischen Berg zu versammeln, damit sie über Korruption reden. Einfache Menschen in einem Steinhaus ohne Zugang zu Internet und Bibliothek, es schien uns sinnlos, die Früchte des investigativen Journalismus anderer aus dem Gedächtnis nachzuerzählen. Tagelang war der Schnaps das einzige Medium der Kommunikation. Von ihm waren die Intensität und das jeweilige Ergebnis des Gesprächs abhängig. Und dann war plötzlich der Brennstoff weg, und wir schenkten Wasser in kleine Schnapsgläser ein. Wir alle wussten, dass wir Wasser tranken, und taten so, als würden wir Schnaps trinken. Wir wurden wahnsinnig und nahmen das Spiel an. Ohne Schaps konnten wir einander keine Sekunde lang ertragen.