Bücherei mit sieben Siegeln?

Bibliotheken können einen wichtigen Beitrag zur Alphabetisierung und Basisbildung leisten – als erstes müssen sie der Zielgruppe über die Schwelle helfen, damit die Bücherei für Menschen mit Alphabetisierungsbedarf kein Buch mit sieben Siegeln bleibt.

AutorIn: 
Stefanie Günes-Herzog


Die Bibliothek gilt mittlerweile als Vermittlerin sprachlicher, kultureller und medialer Vielfalt, ist ein Ort der Begegnung, sozialer Interaktion und Inklusion, wo alle willkommen sind. Interkulturelle Angebote und ein klares Ja zu Diversität und Mehrsprachigkeit sind Eckpfeiler zeitgemäßer Bibliotheksarbeit. Bibliotheken bieten Raum für außerschulisches, autonomes, lebenslanges Lernen, haben innovative Angebote für Menschen aller Generationen, veranstalten Lesungen und oft auch Sprachkurse und doch trauen sich einige Menschen nicht über ihre Schwelle. Menschen mit sogenanntem „Basisbildungsbedarf“.

 

Was bedeutet Basisbildungsbedarf?

Basisbildungsbedarf ist eng an die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und Erwartungen gekoppelt. Bildung, die früher ausgereicht hat, die in einem anderen Land, in einem anderen gesellschaftlichen Gefüge genügte, um selbstbestimmt leben zu können oder einen guten Arbeitsplatz zu finden, entspricht nicht mehr. Um Schritt halten zu können, sind neben der Beherrschung der Kulturtechniken Lesen, Schreiben und Rechnen der Umgang mit Informations- und Kommunikationstechnologien und die Fähigkeit, autonom zu lernen, zu einem Muss geworden.

Die VHS Wien hat im Bereich Basisbildung/Alphabetisierung von Erwachsenen eine lange Tradition, die auf die frühen 1990er-Jahre zurückläuft. Die Basisbildungskurse sind den Prinzipien und Richtlinien für Basisbildungsangebote verpflichtet, die im Auftrag des Bundesministeriums für Bildung von der Fachgruppe Basisbildung erarbeitet wurden. Im Zentrum des Basisbildungsunterrichts stehen die Lernenden. Die Verschränkung von Inhalten und Lernangebote unter Einbezug der individuellen Kompetenzen, Potenziale, Erfahrungen und Lernziele der KursteilnehmerInnen soll Zugänge zur Partizipation an gesellschaftlichen und demokratischen Möglichkeiten eröffnen. Basisbildung grenzt sich demnach von einem autoritären Verständnis von Alphabetisierung ab und will die aktive und gelebte Mitgestaltung der Welt seitens der Lernenden fördern. Ein primäres Anliegen der Alphabetisierung/Basisbildung ist eine nachhaltige Vermittlung von Autonomie und Selbstbestimmtheit in Lernprozessen. Hier kommt die öffentliche Bibliothek, die autonomem Lernen Ressourcen und Raum bieten kann, ins Spiel. Lesekompetenz gilt als Grundlage für Medienkompetenz. Doch nicht nur der Erwerb der Fähigkeit des Lesens, um den Anforderungen der globalisierten Wissensgesellschaft gerecht zu werden, sondern auch die Möglichkeit zu lesen, sind Anliegen von Lernenden. Die Öffentlichen Bibliotheken sind kompetente Partnerinnen, die Kursanbieter und –teilnehmerInnen beim Umgang und der Nutzung von Medienvielfalt unterstützen könnten.

 

Wegweiser zur Bibliothek

Für Menschen mit Alphabetisierungsbedarf ist die Orientierung in einer Bibliothek oft schon eine Herausforderung. Dabei geht es nicht darum, ein bestimmtes Medium zu finden, sondern auch um die Vermittlung dessen, was eine Öffentliche Bibliothek überhaupt ist, und dass diese für alle zugänglich ist. Spezielle erwachsenengerechte Führungen für Menschen mit Alphabetisierungsbedarf mit zielgruppenadäquaten, niederschwelligen Informationsmaterialien in das Veranstaltungsangebot der Bibliotheken aufzunehmen, wäre eine große Unterstützung.

 

Positive Signale setzen

Nicht ausreichend alphabetisiert zu sein, ist für viele Menschen mit Basisbildungsbedarf mit Scham behaftet. Teilweise kostet es Überwindung, sich an Beratungsstellen und Kursanbieter zu wenden. Nachvollziehbarerweise kann da der Schritt in eine Bibliothek eine große Hürde darstellen. Neben dem bereits im Bibliotheksbestand vorhandenen breiten Angebot an Lektüre und Medien könnten Lernstudios mit PCs, in denen unter anderen Adressatinnen adäquate multimediale Angebote bereitgestellt sind, eingerichtet werden. Entlehnbare Medienboxen, die Materialien beinhalten, die sich auf verschiedenen Ebenen mit dem Thema Alphabetisierungsbedarf auseinandersetzen und in Zusammenarbeit mit ExpertInnen und TeilnehmerInnen von Alphabetisierungs-/Basisbildungskursen erstellt werden, wären nicht nur ein positiver Beitrag zur Sensibilisierung der Öffentlichkeit, sondern auch eine Chance zur Inklusion von Menschen mit Alphabetisierungsbedarf in die Entwicklung von adäquaten Bibliotheksangeboten und Materialien. Vergleichbare, gelungene Umsetzungen finden sich in der Stadtbibliothek Gallus in Frankfurt am Main und in der Stadtbibliothek Reutlingen.

 

Weitere Informationen zum Lernraum/AlfaZentrum für MigrantInnen der VHS Wien finden Sie hier.

 

 

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