Bilderbücher entdecken

Drei- bis Sechsjährige suchen interessante Bilder und spannende Geschichten, sie haben Interesse an der Welt, stellen „Warum“-Fragen und sind der Magie der Märchen gegenüber aufgeschlossen. Sie wollen über ihre Gefühle reden und die HeldInnen in den unterschiedlichen Situationen auf diversen Erzählebenen verstehen. 

AutorIn: 
Christina Repolust


Jede Bilderbuchgeschichte bietet auf der Wort- und Bildebene Anregungen zum dialogischen Vorlesen und damit zur Erweiterung des Wortschatzes. Wenn Bibliotheken Kindern und Eltern ein differenziertes Bilder-, Märchen- und Sachbuchangebot machen, fördern sie die Fähigkeit, Bild- und Textinformationen zu interpretieren und zu verarbeiten.

 

Altersgemäßes Angebot

Der Wortschatz von Zweieinhalbjährigen umfasst mehr als 500 Wörter, sechsjährige Kinder verfügen durchschnittlich über einen aktiven Wortschatz von 5000 bis 6000 Wörtern, 20-Jährige über 16.000 Wörter. Es sind die ersten Lebensjahre, die prägend für den souveränen Umgang mit dem aktiven Wortschatz sind. Je stärker und eindringlicher die Reize der Umwelt – Eltern, Kindergarten – sind, desto gewandter werden Kinder in der Nutzung ihres Wortschatzes. Längere Bilderbücher mit einer durchgängigen Handlung für Kinder zwischen drei und vier Jahren, Märchenbilderbücher für Kinder zwischen dem vierten und dem fünften Lebensjahr sowie komplexere Bilderbuchgeschichten für die Fünf- bis Sechsjährigen sind das jeweils altersgemäße Angebot. Nicht zu vergessen sind hier gendergerechte Angebote sowie Sachbücher, die die brennenden Fragen der jungen LeserInnen beantworten. Lese- und Sprachförderung übersehen häufig das Gesprächspotenzial, das gerade Sachbilderbücher bieten: Hier ist die Rede-Antwort-Situation noch einmal durch die Konzepte der Sachtexte verstärkt.

 

Sprache schafft Wirklichkeit

Kinder können ab ihrem dritten Lebensjahr Wünsche formulieren, ihre Ideen ausdrücken. Sie sprechen von sich nicht mehr unter Nennung des Vornamens, sondern als „Ich“. In dieses Entwicklungsfenster fällt auch das Benennen ihrer Gefühle. Sie wissen bereits, wie sich Angst, Hunger und Freude anfühlen, sie ordnen ihre Emotionen diesen abstrakten Begriffen zu. Das ist die Basis dafür, dass sich Kinder ab drei Jahren mit den HeldInnen der Geschichten identifizieren. Sie erkennen Anteile von sich selbst in den handelnden Figuren wieder und reagieren daher empathisch auf die in Wort und Bild erzählten Geschichten. Vorlesestunden – ein- und mehrsprachig – in der Öffentlichen Bibliothek unterstützen den Spracherwerb und animieren Erwachsene dazu, vorzulesen: in der Kindergruppe, im Kindergarten, als Tagesmutter oder -vater, als Mutter, Vater, Onkel, Oma.

 

Bilderbuchfiguren als „Vorbilder“

Kindergartenkinder erkennen in der Freundschaftssuche der HeldInnen – auch in Tierform – eigene Gefühle wieder. Sie können sich bereits auf komplexere Handlungen einlassen, verstehen die Verbindungen zwischen den handelnden Figuren und verstehen die Konsequenzen der einzelnen Taten der HeldInnen. Wut und Zorn, dargestellt in Wort und Bild, sind hier ebenso Themen wie Liebe und Freundschaft. Wenn Drei- bis Sechsjährige die Bilder betrachten, erkennen sie aufgrund der Körperhaltung der HeldInnen deren Gefühle, sie können also Bilder und Emotionen einander zuordnen und mit ihren Bezugspersonen darüber reden.

 

Gedanken in Worte fassen

Erwachsene Bezugspersonen daheim, in der Kindergruppe und im Kindergarten greifen mit gezielten Fragen die Emotionen auf, erweitern mit konkreten Fragen, die nicht nur mit „Ja“ oder „Nein“ beantwortet werden können, den Wortschatz der Kinder und fördern zusätzlich deren Kompetenz, Gefühle verbal auszudrücken.

 

Gezielte Fragen beim Bilderbuchbetrachten können sein:

  • Was meinst du, wie fühlt sich X jetzt? Wie ist ihr/ihm zumute?
  • Kennst du dieses Gefühl?
  • Was würdest du denn tun, wenn du X wärst?
  • Wie geht die Geschichte weiter?

 

Dialogisches Vorlesen

Dialogisches Vorlesen, das heißt Vorlesen und Nachfragen bei den ZuhörerInnen, verfestigt erstens die Geschichte und bezieht zweitens die Kinder aktiv in den Geschichtenverlauf mit ein. Vorschulkinder erfahren so, dass sich der Weg eines Helden, einer Heldin verändern kann, dass es nicht schlimm ist, die eigene Angst oder Wut anzusprechen.

 

Die Vorlesestudie 2012 der Deutschen Bahn, der Wochenzeitung „Die Zeit“ und der Stiftung Lesen hat die Akzeptanz von Vorlese-Apps getestet: Sie werden hervorragend angenommen und erreichen auch Schichten mit geringer formaler Bildung (Smartphones und Tablets sind in ihren Haushalten gleich häufig vorhanden wie in Schichten mit hoher formaler Bildung). Erwachsene wie Kinder nutzen die Vorlese-Apps unterwegs, während das Vorlesen eines Bilderbuches daheim, zum Einschlafen, nach wie vor konkurrenzlos ist.

 

Heute ist es ein Service Öffentlicher Bibliotheken, neben einer breiten Palette an Bilderbüchern auch Angebote für PädagogInnen und Eltern machen, die die Vermittlung von Bilderbüchern im Fokus hat. Es geht schon lange nicht mehr um die bloße Zurverfügungstellung von Bilderbüchern, sondern um den beispielgebenden Umgang mit diesem Genre. Das Selbstkonzept der Kinder geht dadurch in die richtige Richtung, wenn Vorschulkinder von sich sagen: „Ich bin ein Leser“, „Ich bin eine Leserin“. 

 

Weiterführende Literatur

  • Maryanne Wolf: Das lesende Gehirn. Wie der Mensch zum Lesen kam – und was es in unseren Köpfen bewirkt. Spektrum Akademischer Verlag 2010.

  • Friederike Plaga: Bilderreich & wortgewandt. Kindliches Bildverstehen und Frühpädagogik. kapoed Verlag 2012.

  • Christine Gerbe, Karl Holle, Tatjana Jesch: Texte lesen. Lesekompetenz – Textverstehen – Lesedidaktik – Lesesozialisation. UTB Verlag 2009.

 

 

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