Gendersensible Leseförderung

Die PISA-Studien haben gezeigt, was ohnehin allen klar ist: Das Wort ist nicht nur in gesprochener Form eine Domäne des weiblichen Teils der Bevölkerung, sondern auch in gedruckter. Mädchen lesen in jedem Alter lieber und mehr als Buben.

AutorIn: 
Elke Groß


Unterschiede zwischen den Lese- und Textverständnisfähigkeiten von Buben und Mädchen wurden in allen teilnehmenden Ländern festgestellt. In Österreich stimmt besonders eine Zahl nachdenklich: 80 Prozent der Kinder mit Lese- und Rechtschreibproblemen sind männlich. (1)

 

Doch sieht man sich die Zahlen der PISA-Studie und auch anderer Studien wie zum Beispiel PIRLS (2) genauer an, ergibt sich ein interessanter Aspekt: Das bessere Abschneiden der Mädchen verschwindet beinahe völlig, sobald Mädchen und Buben mit ähnlichem Interesse und vergleichbarer Freude ans Lesen herangehen. Die Geschlechterdifferenzen scheinen also mit der deutlich größeren Lesemotivation der Mädchen zusammenzuhängen, die in der Folge eine größere Lesepraxis und damit mehr Lesekompetenz nach sich zieht.

 

Mädchen lieben Texte, Buben mögen Bilder

Warum Mädchen lieber zu einem Buch greifen als Buben, hat sicher verschiedene Ursachen. Theorien dazu machen entweder Unterschiede in der Sozialisation (Stichwort "Feminisierung der Lesekultur"), biologische Geschlechtsunterschiede oder auch die Zunahme der visuellen Medien dafür verantwortlich. Ohne ein endgültiges Urteil zu fällen, kann man wohl von einem Mix aus diesen Komponenten ausgehen. Doch man muss sich gar nicht auf die Ursachendiskussion einlassen, sondern kann die statistischen Zahlen für sich sprechen lassen: Mädchen lesen lieber, mehr, anderes und anders als Buben. Sie haben eine höhere Affinität zu Medien, bei denen verbale Modi (Sprache und Schrift) im Vordergrund stehen und deren Inhalte sich durch lineare Lektüre erschließen. Sie bevorzugen narrative Texte. Buben haben eine höhere Affinität zu Bildmedien und Medienangeboten, bei denen visuelle Modi (Bilder, Comics) im Vordergrund stehen. Sie lesen häufiger Texte, deren Inhalte sich durch selektive, punktuelle Lektüre erschließen und bevorzugen informationsorientierte Texte. (3)

 

Die Zahlen vieler Studien und auch die Bibliotheksstatistiken und Erfahrungen der BibliothekarInnen zeichnen also ein Bild, das durchaus zum Handeln auffordert. Trotzdem bleibt diese Diskussion sehr sensibel. Es besteht die Gefahr, dass man mit den bibliothekarischen Angeboten, die speziell den Buben die Welt des Lesens besser erschließen sollen, tradierte Geschlechterstereotype verfestigt, anstatt sie zu überwinden. Auch kann leicht der Eindruck entstehen, Buben wären behandlungsbedürftige "Problemfälle".

 

Eine gendersensible Leseförderung nimmt deshalb die Unterschiede und Ähnlichkeiten zwischen Mädchen und Buben ernst. Sie versucht nicht, die Unterschiede zu nivellieren oder zu zementieren, sondern auf die Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern einzugehen und Handlungsmöglichkeiten zu schaffen und zu erweitern, die durch die oben genannten Ursachen eingeschränkt sind. Damit ergeben sich für die gendersensible Leseförderung zwei Fragen: Die erste befasst sich damit, wie man für Buben das Lesen attraktiv machen kann und wie man die Freude am Lesen bei ihnen weckt, und die zweite Frage thematisiert, wie man Mädchen an informatives Lesen heranführen kann.

 

Ideen für die Praxis

  • Leseerlebnisse sollen grundsätzlich lustbetont und selbstbestimmt sein. Kinder sollten ihre Lektüre immer selbst auswählen dürfen. Am besten schon in der Buchhandlung! Laden Sie Kinder ein, Buchwünsche abzugeben oder beim Bucheinkauf mitzukommen. Stellen Sie ihnen ein Budget zur Verfügung, über das sie beim Einkauf selbst bestimmen können, und akzeptieren Sie die Buchauswahl der Kinder!
  • Es sollten genügend Bücher in der Bibliothek vorhanden sein, die Buben wirklich lesen wollen: Comics, Zeitschriften, "Guinness Buch der Rekorde", Witzesammlungen, Sachbücher, erzählende Literatur, in denen Buben die Helden sind, Bücher zum Film … (4)
  • Lesen ist nicht an ein bestimmtes Medium gebunden! Vor allem für Buben verliert das Buch nach dem ersten "Leseknick" am Ende der Volksschulzeit (der zweite erfolgt dann in der Pubertät) an Bedeutung. Mit E-Books, Internet, Comics und Zeitschriften sind sie in dieser Zeit meist besser zu erreichen.
  • Gut haben es diejenigen, die einen Mann in ihrem Bibliotheksteam haben: Viel besser als jede andere Leseförderungsaktion wirken männliche Vorbilder. Klassenführungen, Kindergartenbesuche, Beratungsgespräche … lassen Sie die Männer ran! In Schule und Kindergärten, Bibliotheken und natürlich auch zu Hause: Männer, die vorleben, dass Lesen Spaß macht, sind unersetzlich.
  • Auch wenn es allen Gleichbehandlungsgrundsätzen widerspricht: Mädchen und Buben lieben es, einmal unter sich zu sein. Ein Buchregal "Conni & Co" und "Greg & Co" oder "Nur für Mädchen", "Nur für Jungs" o. Ä. spricht an. Oder wie wäre es einmal mit einer Veranstaltung oder einer Bibliotheksöffnungszeit unter dem Motto "No Boys" oder "No Girls"? Oder führen Sie einen Lesewettbewerb durch: Buben gegen Mädchen.
  • "Peergroups" haben ab einem bestimmten Alter einen größeren Einfluss auf Kinder als Erwachsene. Nutzen Sie Buchtipps von anderen Kindern (zum Beispiel Lesezeichen im Buch mit der Möglichkeit, einen kurzen Kommentar zu hinterlassen) oder lassen Sie Jugendliche (im Idealfall auch männliche) in Ihrem Team mitarbeiten.

 

Anmerkungen: 

(1) www.bifie.at/node/91

(2) https://www.bifie.at/system/files/buch/pdf/ErsteErgebnisse_PIRLSTIMSS2011_web.pdf

(3) Vergleiche die Ergebnisse der PISA-Studie oder PIRLS-Testungen, unter anderem interpretiert in zahlreichen Publikationen von Margit Böck oder Christine Garbe.

(4) Auf www.jungenleseliste.de finden Sie viele Buchtipps!

 

Weiterführende Literatur

  • Kathrin Müller-Walde: Warum Jungs nicht mehr lesen und wie wir das ändern können. Campus Verlag 2010.
  • Monika Plath, Karin Richter (Hrsg.): Literatur für Jungen – Literatur für Mädchen: Wege zur Lesemotivation in der Schule. Schneider Verlag 2010.
  • Anne Scheller: Leseförderung für Jungen. Motivierende Unterrichtsmaterialien für die Jahrgangsstufe 2–4. Care-Line Verlag 2010.
  • Anne Scheller: Leseförderung für Mädchen. Motivierende Unterrichtsmaterialien für die Jahrgangsstufe 2–4. Care-Line Verlag 2010.

 

 

 

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