Tanja Šljivar bloggt: Eine junge Frau übernimmt eine Machtposition
In der Nacht vor meiner Machtübernahme, in der Nacht bevor ich eine Machtposition übernommen hatte, in der Nacht vor der Pressekonferenz, bei der verlautbart wurde, dass von nun an ausgerechnet ich die besagte Machtposition bekleiden würde, konnte ich nicht schlafen, weil ein Typ, sieben Jahre jünger als ich, mit mir Schluss gemacht hatte, und zwar indem er mir sagte, dass mein Konzept der Akzeptanz nicht mit seinem Konzept der Herzenswärme übereinstimmte. Ich sei kühl, distanziert, grob, aufgekratzt-hysterisch, konformistisch – so lauteten seine herzenswarmen Worte – ich war also, von seinem Standpunkt aus gesehen, der Inbegriff der jungen Frau in einer wichtigen Funktion.
Einige Tage nach meiner Machtübernahme tauchten zahlreiche Zeitungsartikel und Spekulationen auf – eine junge Frau in Serbien konnte doch nicht einfach so ein Amt bekommen, sie musste wohl mit der Kreativindustrie verbandelt sein, mit anderen Frauen in Machtpositionen, sie musste doch einem älteren Mann diese Position weggenommen haben, sie ist nur da, wo sie ist, um die verdorbenen Absichten und Pläne von jemand anderem, der nicht sie selbst ist, durchzusetzen, und so weiter und so fort.
Einige Wochen nach meiner Machtübernahme fragte mich ein Ensemble-Mitglied vor versammelter Mannschaft, wie viele Vorstellungen aus ihrem Repertoire ich denn überhaupt angeschaut hätte.
Einen Monat nach meiner Machtübernahme, im Versuch, nach 150 Jahren des Bestehens dieser Kulturinstitution, im Versuch also, in den gedruckten Materialien und auf der Website der betreffenden Institution die Kostümbildnerinnen endlich als Kostümbildnerinnen zu bezeichnen und die Souffleusen als Souffleusen, schickte mir ein mir untergeordneter und älterer als ich Mann aus dem IT-Sektor einige Mails hintereinander zu diesem Thema, in denen er gegen eine Veränderung der Berufsbezeichnungen protestierte, mit dem Argument, eine solche Vorgehensweise sei „hässlich, unnatürlich und eine VERGEWALTIGUNG der Sprache“.
Zwei Monate nach meiner Machtübernahme kam ein Mann, der vor etwa dreißig Jahren die gleiche Machtposition bekleidet hatte, zu mir ins Büro, um mir ein Projekt anzubieten und um nach einem etwa zehn Minuten andauernden Gespräch und dem Erteilen von Ratschlägen im Stil von „in einer Machtposition ist es so und so“, mir tief in die Augen zu blicken und mir zu sagen, ich hätte eine ungewöhnlich schöne Nuance ebendieser Sehorgane, die er in diesem Moment so gründlich betrachtete – irgendetwas zwischen Gelb und Grün. Noch einige Wochen später sagte ein Mitarbeiter zu mir, ich solle mich nicht über den Tisch beugen, da mein Dekolleté allzu freizügig sei.
Die ersten drei Monate in dieser Machtposition verbrachte ich heulend und schlecht schlafend. Dann wandte ich mich Healing-Praktiken zu: Ich machte eine Psychotherapie und Yoga (Hand aufs Herz, das hatte ich auch schon jahrelang zuvor gemacht, sowohl in meiner Freelance-Phase, als auch in meiner Pleite-Phase, als auch in meiner Deutschland-Phase), aber zusätzlich befasste ich mich auch noch mit Astrologie, transzendentaler Meditation, der PEAT-Methode (Primordiale Energie Aktivierung und Transzendenz), Systemaufstellungen, gluten- und laktosefreier Ernährung, Detox und Ähnlichem. Zudem verbrachte ich 47 Tage ohne einen Tropfen Alkohol, also vollkommen nüchtern, was vermutlich meinen Rekord darstellt seit ich mit dem Trinken begonnen hatte, also einen Rekord seit meinem 16. Lebensjahr. Die alkoholfreien Tage endeten, als Ensemble-Mitglieder zu mir ins Büro kamen, in Abstimmung mit dem Regisseur, und von mir wissen wollten, warum ich ihr Stück mit gefährlichem politischen Inhalt zensuriert hätte. Ich begann wieder, Spritzer zu trinken, an jenem Tag, an dem die anderweitigen Beschäftigungen der Schauspielerinnen und Schauspieler, ihre Rollen in Fernsehserien, ihre Engagements an anderen Theatern und der daraus resultierende Umstand, dass das Stück monatelang nicht gespielt werden konnte, zu einem Synonym für Zensur und Dissidententum geworden war.
Einige Monate nach meiner Machtübernahme schickte mir eine Schauspielerin aus dem Ensemble eine Droh-Mail, in der sie schrieb, ich solle froh sein, dass sie sich auf diese Weise an mich wandte, also in geschriebener Form, und dass sie nicht vor meinen Augen explodiert sei, also live, denn sie hätte mich damit, ich zitiere: „für das halbe Leben traumatisiert“. Der Grund dafür war die Tatsache, dass ich ihr nach einer szenischen Lesung nicht persönlich gratuliert, sondern ihr bei dieser Gelegenheit den Rücken zugedreht hätte.
Etwa zu der Zeit, als ich die besagte Droh-Mail erhalten hatte, kam eine weitere Theatermitarbeiterin zu mir zu einer Besprechung in mein Büro, also in mein Arbeitszimmer, also, in das Zimmer mit dem schönen Ausblick auf den seit Monaten im Umbau befindlichen Platz der Republik, und sagte zu mir, ohne mit der Wimper zu zucken, ich sei eine ambitionierte Konformistin, und dass sie sich für unsere Kulturinstitution keine solchen Beschäftigten wünschte.
Fast sechs Monate nach meiner Machtübernahme unterschrieb ich als Lektorin eine nichtlektorierte Programmbroschüre für das erste Stück, das ich als Direktorin für Drama am Nationaltheater in Belgrad auf die Bühne brachte. In diesem System, in dem über 600 Personen ein regelmäßiges, armseliges, aber immerhin vorhandenes Gehalt beziehen, gibt es niemanden, der als Lektor/Lektorin beschäftigt wäre, dennoch funktioniert dieses System weiterhin als ein Bollwerk zur Verteidigung der Sprache, dieses nationalen Guts, das wir mit anderen Nationen teilen, ohne es zugeben zu wollen, dieses System funktioniert und besteht also weiterhin so, indem es sich immer wieder ein Fauxpas leistet wie etwa die besagte nicht lektorierte Programmbroschüre, und dieses System behauptet von sich selbst, sich mit Kultur und Sprache ernsthaft auseinanderzusetzen. Das Lektorat wurde in diesem Fall vollständig in meine Zuständigkeit übertragen, die ich freiwillig übernommen hatte, jedoch war es mir nicht gelungen, diese Aufgabe zu Ende zu bringen und auch nicht so, wie es sich gehört hätte.
Die Macht brachte mir also zahlreiche Privilegien, ein Gehalt unter meinem Stipendium in Deutschland, diverse schöne und freundliche, unterstützende Worte, die Macht bescherte mir eine Ahnung von Taggeldern und Dienstreisen in ganz Serbien, die Gelegenheit, mich in die Nähe von Freimaurern, Politikern und Spionen zu begeben, die Macht ist wunderbar, majestätisch, es wird mir schwer fallen, mich eines Tages von ihr loszusagen und in mein gutes altes Leben zurückzukehren, in dem ich bloß eine freie Autorin auf einem noch freieren Markt bin. Ich muss nur noch lernen, die Macht ein wenig besser zu fokussieren, aber dazu ist wohl die transzendentale Meditation da. Und womöglich belege ich irgendwann einen Coaching-Kurs.
PS: In dem Moment, als die frisch ernannte ausführende Theaterintendantin mich dazu einlud, die Funktion der ausführenden Direktorin für Drama auszuüben, hatte ich in dem Kalenderjahr, das sich damals seinem Ende näherte, bereits fünf Premieren gehabt, jedoch kaum Honorare kassiert, weshalb ich mir manchmal Summen von ca. 100 Euro von meinen Eltern und Freunden ausleihen musste. In dem Moment, da ich den vorliegenden Text schreibe, verfüge ich auf meinem Konto mit ausländischer Währung über Ersparnisse, von denen ich einige Monate lang leben kann, nachdem ich die Machtposition verlassen haben werde. Das, was mich in dieser Höhle festhält, ist abgesehen von einer gewissen finanziellen Stabilität das Verantwortungsgefühl gegenüber bereits begonnen Projekten sowie die Idee, dass es nun an der Zeit ist, dass junge Frauen tatsächlich Machtpositionen einnehmen.
Dieser Text soll nicht als eine moralische Verurteilung von jemandem oder etwas gelesen werden, und auch nicht als eine ernsthafte und gründliche Kritik oder Analyse einer Kulturinstitution, denn dafür würde ich wesentlich mehr Zeit und Raum benötigen (ein Roman könnte diesbezüglich Abhilfe schaffen). Man muss verstehen, ich bin ebenfalls eine von ihnen, ein Teil dieser Szene, die von schweren Metallwänden umgeben ist, die kaum Licht durchlassen. Zweckdienlicher wäre es, den Text als ein Poem zu lesen, das ich angesichts eines drohenden Nervenzusammenbruchs schreiben musste, um ebendiesen Nervenzusammenbruch durch mein Gejammer für eine gewisse Zeit aufzuschieben oder ganz und gar abzuwenden.
Zum Abschluss möchte ich Toni Morrison zitieren: „Ich sage zu meinen Studenten: Wenn ihr mal diese Jobs bekommt, für die ihr so brillant ausgebildet wurdet, dann denkt daran, euer eigentlicher Job besteht darin, dass ihr, wenn ihr frei seid, jemanden anderen befreit. Wenn ihr Macht habt, dann ist es euer Job, einen anderen zu ermächtigen.“
Vielleicht besteht das Hauptproblem darin, dass ich mich in meiner Machtposition weder mächtig noch frei gefühlt habe.
Ins Deutsche übersetzt von Mascha Dabić