Daniel Wisser bloggt: See und Fernsehen

Der Sommer eines vielbeschäftigten Autors: Musik machen, Bücher präsentieren, Bücher schreiben und vor allem Menschen beobachten.

Der Juli 2018 ist für mich eine gute Zeit. Der neue Roman Königin der Berge ist fertig und erscheint Ende August. Ich habe Zeit, die Lesungen daraus vorzubereiten und mich den vielen kurzen Texten, die auch geschrieben werden wollen, zuzuwenden. Zudem wurde ich von der Familie Soravia als Artist in Residence für SoArt ausgewählt, einem Aufenthaltsstipendium, währenddessen man in einer landschaftlich und architektonisch großartigen Umgebung direkt am Millstätter See wohnen und arbeiten kann. Ich bin als Musiker eingeladen, habe Equipment, um Aufnahmen zu machen und habe auf der Fahrt hierher einen Plan entworfen, nämlich verschiedene Erlebnisse und mitgehörte Gespräche auf Bahnfahrten aufzuschreiben und zu einem Teil meines Webromans Undo zu machen. Jedes Kapitel beinhaltet einen Song oder ein Gedicht.

Vorbild für diese Struktur ist der Roman Ich liebe dich! von Paul Scheerbart, einem heute völlig vergessenen Autor. Man kennt den Roman am ehesten aufgrund des Umstands, dass er das wahrscheinlich erste reine Lautgedicht in deutscher Sprache Kikakoku Ekoralaps enthält, das lange vor den Dadaisten und vor Morgensterns Das große Lalula geschrieben wurde. Was mich an dem Roman, der ebenfalls an einer Bahnfahrt orientiert ist, zunächst verstört hat, ist der Titel. Es fällt schwer, den Satz Ich liebe dich zu sagen, es fällt schwer ihn zu schreiben und auch in Songs hat er mehr oder weniger ausgedient. Warum Scheerbarts Roman Ich liebe dich! heißt, wird aber gleich zu Beginn motiviert: Ein Mann hört, wie der Satz von einer Frau einem Mann beim Einsteigen in einen Zug zugerufen wird.

Und dann ist es mir passiert: Auf einer Fahrt von Rothenthurn nach Klagenfurt mit der Schnellbahn S1, saßen mir schräg gegenüber drei Frauen im Großraumabteil und sprachen über eine gemeinsame Freundin, die offensichtlich vor ihrer Zeit an einer Krankheit verstorben war. Eine der Frauen sagte: »Als ich sie das letzte Mal gesehen habe, haben wir uns verabschiedet. Danach hat sie sich noch einmal zu mir umgedreht und gesagt: Ich liebe dich

Das Menschen- und Stimmengewirr in einem Großraumabteil literarisch einzufangen, Beobachtetes, Gehörtes und Imaginiertes miteinander zu verweben, ist eine reizvolle Aufgabe. Ich habe mir auch Lektüre mitgenommen, zwei Autorinnen, die solche Situationen mit literarischer Perfektion bearbeitet haben: Zum einen Ilse Aichingers Hörspiel Nachmittag in Ostende von 1968. Zum anderen Brigitte Kronauers Roman Verlangen nach Musik und Gebirge, der in Oostende spielt. (Der Titel ist einem Zitat Friedrich Nietzsches entnommen.)

Zwischen dem Lesen und Schreiben und Aufnehmen, blicke ich von meinem Arbeitsplatz direkt auf den Millstätter See. Das Fenster ist mein Fernsehapparat. Das Wetter hier am See verändert sich alle anderthalb bis zwei Stunden völlig. Gleißender Sonnenschein wird von starker Bewölkung oder schweren Regenfällen oder Sturm oder Gewittern rasch abgelöst. Natürlich ist es schön, im See zu Schwimmen, bei Schönwetter mit dem Boot hinauszufahren und den Sonnenuntergang zu sehen. Trotzdem sitze ich lieber am Fenster, wo mich die Natur nicht dabei stört, wenn ich sie beobachte. Auch das Fernsehen kann mich nicht davon überzeugen, dass das, was ich sehe, real ist.

So geht es mir auch bei Zugfahrten. Ich möchte die Gesprächsfetzen und zufälligen Beobachtungen für mich zu einem langen Text machen, aber selbst darin nicht mitwirken. Ich möchte am liebsten unsichtbar sein.

Einen dramatischen Abschluss bekommt mein Aufenthalt hier am Freitag (28. Juli 2018) durch die totale Mondfinsternis, den sogenannten Blutmond. Auch das wird Fernsehen vom Feinsten.

 

P.S.: Am 12. September lese ich im Kunstraum Nestroyhof aus dem Webroman Undo und natürlich auch aus dem Kapitel Hello World, ich liebe dich, das hier am Millstätter See entstanden ist.

 

Links:

 

Webroman Undo

www.danielwisser.net/undo/

 

SoArt

www.soart.at

 

Kunstraum Nestroyhof

www.kunstraum-nestroyhof.at

 

 

Gastblogger/in

© Ian Ehm
© Ian Ehm

Daniel Wisser, geb. 1971, Musiker beim Ersten Wiener Heimorgelorchester (zuletzt: Die Letten werden die Esten sein) und Schriftsteller (zuletzt: Löwen in der Einöde), Wisser neuer Roman Königin der Berge erscheint am 23.8.2018 im Verlag Jung & Jung, am selben Tag liest der Autor beim Festival o-töne

 

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