Sebastian Fasthuber bloggt: Das alles habe ich nicht gelesen
Ein schönes Buch von Erwin Einzinger trägt den Titel „Das Ideal und das Leben“. Das Ideal meiner Tätigkeit als Literaturkritiker bekomme ich vor Augen geführt, wenn mich Leute zum ersten Mal besuchen. Beim Anblick der Bücherwände und -stapel fällt verlässlich der Satz: „Und das hast du alles gelesen?“ Dabei wissen die meisten, dass ich Familie habe, neben der Literatur auch in anderen Bereichen arbeite, durchaus auch unter der Woche gern in der Küche stehe und mir vom Tennisabend bis zum Spanischkurs noch weitere Hobbys gönne.
Um das alles lesen zu können, müsste ich sieben Tage die Woche mit wenig Schlaf an der Lektüre dran sein. Ich hätte Augenringe wie Horst Tappert und käme trotzdem nicht mal dazu, mich über die Lektüre hinaus auch noch zu den Büchern zu äußern. Und doch hält sich hartnäckig die Vorstellung, als Literaturkritiker müsste ich alles kennen, was so erscheint. Vielleicht wünschen sich die Menschen gerade in zunehmend post-literarischen Zeiten, dass es jemanden gibt, der es – stellvertretend für sie – rezipiert.
Als Vorstellung ist das schön und tröstlich, für mich bisweilen aber auch frustrierend, denn die Wahrheit ist natürlich, dass ich nur einen Bruchteil von dem abarbeiten kann, was sich unter meinem Schreibtisch an Bücherstapeln bildet. Das Leben, das sich nicht ans Ideal hält, bringt es mit sich, dass ich im Schnitt täglich wahrscheinlich länger aufs Smartphone schaue als in Bücher. Sehr literarisch geht es am Display ehrlich gesagt nicht zu. Ein einziges Mal habe ich versucht, am Handy ein Buch zu lesen – im letzten Sommerurlaub, „Yseut.“ von Marlene Streeruwitz –, und fand die Erfahrung frustrierend, was nicht so sehr am Text lag.
Ich muss nicht nur ständig entscheiden, ob es sich literarisch lohnt, ein bestimmtes Buch zu lesen. Als freier Journalist muss ich auch abwägen, ob ich einen Roman rezensieren oder einen anderen, besser bezahlten Auftrag annehmen soll. Als ich jüngst mit einem großen Verleger beisammen stand, rührte er mich, als er mich fragte, warum anderer heimische Kritiker ab und zu auch in der „FAZ“ oder in der „NZZ“ Bücher besprechen würden, ich hingegen nicht. Er würde dort von mir gern einen Grundsatztext lesen, inwiefern die österreichische Literatur im 21. Jahrhundert ihre Einzigartigkeit und Identität verloren habe.
Eine Frage, der nachzugehen sich fraglos lohnen würde. Aber es kommt immer was dazwischen. Hier ist noch eine Spalte mit einer kurzen Besprechung zu füllen, da ein seit Monaten vereinbartes Schriftstellerporträt zu verfassen. Während ich diesen Blogbeitrag schreibe, hätte ich auch die zweite Hälfte von Lukas Bärfuss’ „Hagard“ lesen können. Im Postfach ist gerade ein Mail von der Pressefrau eines Verlags eingelangt, die höflich fragt, ob zu dem Buch von XY vielleicht noch eine Rezension geplant sei. Bald schon wird wieder eine Saison vorbei sein, die Vorschauen und Vor-Vorschauen für die nächste werden zu dem Zeitpunkt längst vorliegen.
Eine Zeit lang hat mich das belastet. Heuer habe ich beschlossen, anders an die Dinge heranzugehen. Ich versuche die Nebengeräusche des Betriebs auszublenden und habe in den ersten Monaten tatsächlich so viel Spaß am Lesen gehabt wie schon lang nicht mehr. Allein die ganz unterschiedlichen, jedoch gleichermaßen fantastischen Bücher „Löwen in der Einöde“ von Daniel Wisser, „Hoffnun’“ von Puneh Ansari und „Der Moddetektiv“ von Christopher Just lassen mich jetzt schon denken, dass es am Ende kein ganz schlechter Jahrgang gewesen sein wird.
Seitdem ich vor einer guten Stunde diesen Text begonnen habe, frage ich mich allerdings, wovon „Das Ideal und das Leben“ erzählt. Mich beschleicht immer stärker der Verdacht, ich habe das Buch gar nicht gelesen. Ich werde den Laptop nun zuklappen und im Bücherregal nach Einzinger suchen. Den Rest überlasse ich Ihrer schmutzigen Fantasie.