Geschichte, Kulturgeschichte & Biografien
Innerhalb der Warengruppen des deutschen Buchmarkts machte im Jahr 2012 das Sachbuch 9,3 Prozent aus. Innerhalb dieser Warengruppe wiederum kam das Segment Geschichte auf einen Anteil von 14,1 Prozent und so hinter den Bereichen Politik/Wirtschaft/Gesellschaft und Lexika/Nachschlagewerke auf Platz drei.(1)
Was allerdings die Verbindung von Büchern aus dem Bereich "Geschichte/Kulturgeschichte/Biografien" zu Jubiläen und zu begehenden Jahres- und Gedenktagen angeht, so steht dieses Segment an der Spitze.
Lernen aus der Geschichte?
Das hat seit Sommer 2013 die erstaunliche Anzahl an Neuerscheinungen zum Ersten Weltkrieg deutlich gezeigt. Angeführt vom Bestseller des englischen Historikers Christopher Clark "Die Schlafwandler" (DTV 2013) erschien eine große Bandbreite an Untersuchungen, Monografien und illustrierten Bänden, so dass wohl ohne jeden Widerspruch gesagt werden kann: Dieser Konflikt, als Urkatastrophe der Moderne bezeichnet, ist nun so gründlich ausgeleuchtet wie kein anderer Krieg.
Es erschienen Sammelbände, die Persönliches und mikroskopisch Kleines enthielten, so etwa die von Lisbeth Exner und Herbert Kapfer herausgegebene "Verborgene Chronik 1914" (Galiani Verlag 2014) oder "Was tun wir hier? Soldatenpost und Heimatbriefe aus zwei Weltkriegen", herausgegeben von Frank Schumann (Verlag Neues Leben 2013) mit Aufzeichnungen von ganz unten oder aus den Frontgräben. Zudem wurden eher auf Lokales sich konzentrierende Monografien (Edgard Haider: "Wien 1914. Alltag am Rande des Abgrunds", Böhlau 2014) ausgeliefert, aber auch große Überschaudarstellungen wie jene von Adam Hochschild ("Der Große Krieg. Der Untergang des alten Europa im Ersten Weltkrieg", Klett-Cotta 2013) oder von Charles Emmerson, der buchstäblich die ganze Welt vor 1914 schildert, von Wien über Algier bis Tokyo ("1913. In Search of the World before the Great War", New York 2013).
Ähnliches, wenn auch leicht vermindert, gilt zum Beispiel für den Wiener Kongress von 1815, in dem das Europa nach Napoleon I. neu geregelt wurde. Seit Herbst 2014 erscheinen dazu ebenfalls gleich mehr als ein halbes Dutzend informativer, teils ausgreifender Geschichtsdarstellungen.(2)
Die Darstellung von Geschichte fungiert wie ein Fernrohr: Sie lässt weit Entferntes nah und verwandt erscheinen – zeigt also Ähnlichkeiten oder sogar Parallelen auf, militärische, gesellschaftliche, diplomatische, auch subjektiv-persönliche. Zugleich erfüllt sie paradoxerweise auch das Gegenteil mit Leben. Klug gehandhabt und noch klüger erzählt, betont sie – so zum Beispiel Ian Mortimers "Im Mittelalter. Handbuch für Zeitreisende" (Piper 2014), "Ein Tag im alten Rom" (Goldmann 2011) von Alberto Angela oder "Florenz für 5 Florentiner am Tag" (Sanssouci Verlag 2010) von Charles FitzRoy – die Fremdheit der Vergangenheit, der jeweils erzählten, analysierten und dokumentierten historischen Zeit. Wodurch ebenfalls der Satz Gewicht erhält: dass man aus der Geschichte lernen kann.
Kultur ist Geschichte
Die klassische Geschichtsdarstellung hat seit mehr als einer Generation starke Konkurrenz durch Historiker erfahren, die sich nicht mehr ausschließlich den Groß-, Haupt- und Staatsereignissen, auch nicht den ihre Zeitgenossen überragenden Persönlichkeiten widmen wollen. Diese Bücher haben oft einen anderen, unkonventionelleren und nicht selten originelleren Zugang zu ihrer Materie, der Kulturgeschichte.
Die Kulturgeschichte, ob nun aus psychoanalytischer Sichtweise geschildert oder aus einer Warte, die sich unterschiedlichen Mentalitäten annimmt und deren Veränderung im Lauf der Zeiten aufdeckt, ob einzelne Objekte umkreisend – Landkarten, Getränke, Aquarien –, aus Opposition zu Herrschaftsstrukturen erzählt oder gründend auf einer emanzipatorischen Haltung, nimmt inzwischen immer breiteren Raum in Verlagsprogrammen ein. Die Themen reichen von der Frühgeschichte freier Sexualität im 18. Jahrhundert über Mode und ausgestorbene Handwerkerberufe bis zu Essgeräten, der Kulturgeschichte der Nachhaltigkeit oder des Papiers oder des Kochens.(3)
Biografie als Zugang
Einst beklagte sich die englische Schriftstellerin Rebecca West bitter über den Berufsstand der Biografen. Diese würden, als handele es sich um ein Picknick von Kannibalen, an den noch offenen Gräbern verstorbener Prominenter sitzen, deren Knochen fein säuberlich abnagen und die Gebeine dann kreuz und quer hinter sich werfen, wenn sie mit ihrer unappetitlichen Tätigkeit fertig seien. Dieser weit verbreiteten Kritik, Impertinenz und Schamlosigkeit zum Arbeitsprinzip zu erheben und unter alle Betten und Bettdecken zu schauen und in alle erreichbaren Tagebücher, hielt Michael Holroyd, Engländer und Autor von Biografien, in seiner Aufsatzsammlung "Works on Paper: The Craft of Biography and Autobiography" (Counterpoint Press 2002) die Fähigkeit der biografischen Darstellung entgegen, gerade durch das Schildern von Verdecktem der Geschichte ein menschliches Gesicht zu verleihen, sie zu humanisieren.
Lange stand hierzulande die akademische Geschichtsschreibung dem Genre der Biografie eher skeptisch gegenüber – im Gegensatz zum angelsächsischen Sprachraum, wo die Biografie als pragmatischster und grundsätzlich erhellender Zugang zum Leben eines Menschen gilt. Zu gering erschien UniversitätsprofessorInnen hierzulande der theoretische Gehalt, zu hoch der erzählerische Anteil. Eine fulminante Gegenposition nahm hierzu Golo Mann ein, der mit seiner ausgreifenden literarischen "Wallenstein"-Biografie ein großes Werk schuf, das in vier Jahrzehnten viele Auflagen und Ausgaben erfahren hat.
Inzwischen hat sich dies geändert. Verlage, "runde" Geburts- oder Todesjahre in ihrer Werbung nutzend, zeigen sich aufgeschlossen, Lebensbeschreibungen zu verlegen, ob nun von länger verstorbenen Autorinnen und Autoren (Rolf Hosfeld: Heinrich Heine, 2014; Rüdiger Safranski: Goethe, 2013), von Politikern wie Otto von Bismarck (Ernst Engelberg: Bismarck. Sturm über Europa, Neuauflage 2014) und Winston Churchill (Thomas Kielinger: Winston Churchill, 2014) und Staatsoberhäuptern wie Napoleon Buonaparte (Johannes Willms: Napoleon, 2005). Selbst Maßstab sprengende Bände haben mittlerweile gute Chancen, Interesse auf sich zu ziehen. So beispielsweise Wladimir Aichelburgs monumentale, 3268 Seiten zählende Lebensdarstellung "Erzherzog Franz Ferdinand von Österreich-Este 1863–1914. Notizen zu einem ungewöhnlichen Tagebuch eines außergewöhnlichen Lebens", das nach jahrzehntelanger Arbeit 2014 rechtzeitig zur 100. Wiederkehr des tödlichen Attentats in Sarajevo vorgelegt wurde.(4)
Anmerkungen:
(1) http://www.buchmesse.de/images/fbm/dokumente-ua-pdfs/2014/buchmarkt_deutschland
(2) So u. a.: David King: Wien 1814 (Piper); Thierry Lentz: 1815. Der Wiener Kongress und die Neugründung Europas (Siedler); Hazel Rosenstrauch: Congress mit Damen. 1814/15: Europa zu Gast in Wien (Czernin); Eberhard Straub: Der Wiener Kongress. Das große Fest und die Erfindung des modernen Europa (Klett-Cotta); Adam Zamoyski: 1815 – Napoleons Sturz und der Wiener Kongress (C. H. Beck)
(3) Faramerz Daibhowala: Lust und Freiheit. Die Geschichte der ersten sexuellen Revolution, Klett-Cotta 2014; Rudi Palla: Verschwundene Arbeit, Neuauflage Brandstätter 2014; Bee Wilson: Am Beispiel der Gabel. Eine Geschichte der Koch- und Esswerkzeuge, Insel 2014; Ulrich Grober: Die Entdeckung der Nachhaltigkeit, Kunstmann Verlag 2013; Érik Orsenna: Auf der Spur des Papiers, C.H. Beck 2014; Michael Pollan: Kochen. Eine Naturgeschichte der Transformation, Kunstmann Verlag, 2014
(4) Siehe dazu die Besprechung von Peter Roos: Franz Ferdinand, famos. In: Der Standard, 28.6.2014