Über das nicht visuelle Lesen
Bevor etwa vor 200 Jahren Louis Braille die Blindenschrift erfand, waren blinde Menschen auf das Vorlesen angewiesen. Die tastbare 6-Punkte-Schrift, mit deren Hilfe sich bis zu 64 unterschiedliche Zeichen (Punktkombinationen) darstellen lassen, erlaubt auch blinden Menschen selbstständiges Lesen. Mit dieser tastbaren Schrift sind nicht nur Texte darstellbar, sondern auch Spezialschriften für Mathematik, Chemie, Physik oder Musiknoten, Kurzschrift und Stenografie, ja bis hin zur eigenen Strickschrift möglich.
Das Angebot an Literatur in Braille-Schrift (auch Punktschrift oder Blindenschrift genannt) wuchs im Laufe der Jahre ständig an, konnte aber nie auch nur annähernd mit dem normalen Buchmarkt mithalten. Das 20. Jahrhundert brachte gleich zwei revolutionäre Neuerungen für blinde Literaturinteressierte: In der 1. Hälfte das Buch auf Tonträger, in der 2. das digitale Buch.
Hören statt lesen
Zuerst waren es große Tonbänder, auf die in den Hörbüchereien Bücher aufgesprochen wurden, später dann Compact-Cassetten, danach CDs und inzwischen gibt es auch Hörbücher auf Datenträger. Während der kommerzielle Hörbuchmarkt meist gekürzte Audio-Bearbeitungen veröffentlicht, setzen die Hörbüchereien für blinde Menschen ausschließlich auf Gesamtwerke. Dabei fand beim Wechsel von der kassette zur CD auch eine Umstellung auf ein navigierbares Format statt. Während man einen analogen Tonträger nur von vorne bis hinten anhören und bestenfalls nach Gefühl vor und zurück spulen kann, bietet das DAISY-Format(1) auf CD oder Datenträger die Möglichkeit der gezielten Navigation, ähnlich wie beim visuellen Lesen: Es gibt ein Inhaltsverzeichnis, eine Einteilung in Kapiteln und Unterkapiteln, Absätze und auch Seitenzahlen.
Die im deutschsprachigen Raum produzierten Hör- und Punktschrift-Bücher sind im Katalog der Mediengemeinschaft für blinde und sehbehinderte Menschen e.V. (MediBuS) aufgelistet und einsehbar. Um ein Werk bestellen zu können, bedarf es der Mitgliedschaft in einer der Bibliotheken, die ebenfalls auf der Webseite der Mediengemeinschaft gelistet sind.
Computer, Smartphone & Co
Das E-Book, das in verschiedenen Formaten mehr und mehr den Buchmarkt erobert, steht mit gewissen Einschränkungen auch blinden LeserInnen zur Verfügung. Nutzbar sind derzeit alle nicht mit digitalem Schutz versehenen Bücher, da diese in ein beliebiges Textformat konvertiert und auf einem Ausgabegerät eigener Wahl gelesen werden können. Dabei muss es sich freilich um Text handeln.
Sind Bücher mit einem Kopierschutz versehen, sind die Lesenden meist an bestimmte Endgeräte gebunden. In diesem Fall hängt die Nutzbarkeit von der Zugänglichkeit des jeweiligen Geräts bzw. des erforderlichen Programms ab. Wird bei der Herstellung nicht auf Barrierefreiheit geachtet, bleiben blinde Lesende außen vor.
E-Books, die von öffentlichen Bibliotheken angeboten werden, stehen nach bisherigem Wissensstand blinden Lesenden aufgrund Einschränkungen in der Bedienbarkeit bzw. der übermittelten Formaten ebenfalls nicht zur Verfügung.
Smartphones oder Tablets unter Android oder von Apple verfügen übrigens über eine Sprachausgabe, die einerseits die Bedienung der gesamten Oberfläche und bei entsprechender Gestaltung der verwendeten App auch das Lesen von Büchern ermöglicht.
Die digitale Lesewelt
Seit etwa 30 Jahren können blinde Menschen mit Hilfe eines Screen Readers auch an einem ganz normalen Computer arbeiten. Der Inhalt des Bildschirms wird dabei, wenn es sich um Text handelt, entweder durch synthetische Sprache und/oder ein Braille-Display dargestellt. Bei letzterem handelt es sich um ein Ausgabegerät ähnlich einem Drucker, an das die Zeichen weitergeleitet und in erhabener Punktschrift ausgegeben werden.
Zu Beginn der achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts war noch keine Rede von E-Books. Erworbene Bücher konnten aber bereits damals mittels Scanner und OCR (Optical Character Recognition = optische Zeichenerkennung) erfasst und in lesbaren Text umgewandelt werden. Je nach Qualität des Scanners und der verwendeten Software war das Ergebnis mit mehr oder weniger Fehlern behaftet und umfangreiche Korrekturarbeiten erforderlich, um ein komfortables Lesen oder gar eine Produktion in Braille-Schrift zu ermöglichen.
Das E-Book macht diese mühsame und zeitraubende Arbeit des Scannens und Korrigierens heute überflüssig. Auch das Lesen selbst ist nicht mehr an den Computer gebunden. Texte können, falls nicht mit Kopierschutz versehen, auf ein beliebiges Endgerät übertragen und darum auch unterwegs etwa auf einem Organizer mittels synthetischer Sprache gehört oder auf Braille-Display mit den Fingern gelesen werden. Letztlich bietet das Smartphone alles, was man zum Lesen braucht: Vom Kauf über den Download bis zum Lesevergnügen.
Ein strukturiert aufbereitetes elektronisches Buch ist die beste Voraussetzung für inklusives Lesen: Sie kann für sehbehinderte Menschen die Basis für einen Ausdruck auf weißem Papier mit schwarzer beliebig großer Schrift sein, genauso aber von einer synthetischen Sprache vorgelesen, auf einem Braille-Display mit den Fingern ertastet oder nach entsprechender Aufbereitung/Formatierung auf Papier in Braille-Schrift ausgedruckt werden.
Anmerkungen:
(1) DAISY steht für Digital Accessible Information System