Wenn Geschichten heilen
Da bieten Sachbücher die gerade gefragten Informationen, da erzählt ein Entwicklungsroman vom Scheitern und Wiederaufstehen, da stellt die kleine Heldin des Bilderbuches genau jene Frage, die einem selbst auf der Seele brennt. Das weite Feld der Bibliotherapie hat die Öffentlichen Bibliotheken längst erreicht: Büchertische zu bestimmten Themen verweisen auf diese Kompetenz des Buchbestandes und seiner VermittlerInnen.
Bibliotherapie – Heilung, Unterstützung, persönliches Wachstum
Weit gefasst bedeutet Bibliotherapie, Bücher therapeutisch zu verwenden. Damit ist noch nicht näher ausgesagt, ob sich die LeserInnen die Bücher bzw. Texte selbst aussuchen, ob sie sie empfohlen bekommen, ob sie mit ihnen in Gruppen arbeiten oder von diesen Texten ausgehend, selbst an einem Thema weiterschreiben. Dass das Lesen beim Genesen helfen kann, egal, ob es sich um Störungen in Körper, Geist und/oder Seele handelt, ist der Grundgedanke des interdisziplinären Arbeitsfeldes „Bibliotherapie“. Selbsterkenntnisse zu gewinnen, die eigenen Gedanken zu ordnen, begreifen, dass man mit einem spezifischen Problem, z. B. Demenz eines nahen Angehörigen. nicht allein ist – das sind Angebote der Literatur, egal, ob es sich um Sachliteratur, Belletristik, Lyrik und/oder Märchen handelt. Die so genannte Ratgeberliteratur kann damit als auch Hilfe zur Selbsthilfe gesehen werden. Bei diesen Erziehungs-, Beziehungs- und Gesundheitsratgeber sind oftmals Geschichten zur Identifikation der LeserInnen eingefügt: Häufig bieten Prominente sich hier als Vorbilder an. Buchtitel wie „Wie ich den Krebs besiegte“, „Wie ich zurück ins Leben fand“, „Loslassen – der lange Weg zu mir selbst“ verweisen bereits darauf, dass Heilung machbar und der eigene Fall nicht aussichtslos ist.
Plötzlich ist alles anders
Der Vorarlberger Autor Arno Geiger beschreibt in seinem 2011 erschienenen Roman „Der alte König in seinem Exil“ (Hanserverlag) wie seinem Vater Stück um Stück Orientierung und Erinnerung abhandenkommen. Das Krankheitsbild „Demenz“ wird hier personalisiert und literarisch verarbeitet. 2014 erscheint im Residenzverlag ein Bildband mit dem Titel „Ich bin, wer ich war“: Auch hier wird Demenz beschrieben, jedoch nicht aus der Sicht von MedizinerInnen, sondern aus dem Erleben der Betroffenen und ihrer Angehörigen: „Sie beschreiben Sorgen, Freuden, Ängste“ – so heißt es im Vorwort. Zwei Bilderbücher, Ulf Nilssons „Als Oma seltsam wurde“ (Oetinger Verlag 2008) und Michael Rohers „Die neue Omi“ (Jungbrunnen Verlag 2011), skizzieren beginnende Demenz aus Sicht der Enkelkinder. Diese vier Beispiele sind exemplarisch. Büchertische zu bestimmten Gesundheitsthemen sind stets ein niederschwelliges Angebot im bibliothekarischen Kontext.
Die Welt ist weit und wartet auf mich
Egal ob Bibliotheken Bücher wie „Die Brüder Löwenherz“ (1973) von Astrid Lindgren oder einen aktuellen Roman wie „Das unerhörte Leben des Alex Woods“ (2014) von Gavin Extence präsentieren, stets wird hier den LeserInnen von Horizonterweiterung einer in einer Krise steckenden Hauptperson erzählt. Ohne Krise keine Erweiterung, das gilt auch für das jüngste Werk Josef Winklers „Winnetou, Abel und ich“ (Suhrkamp 2014): Es waren die Erzählungen Karl Mays, die ihm mögliche Wege aus der Enge zeigten. Auch das folgende Zitat aus „Das unerhörte Leben des Alex Woods“ erzählt von dem einzigartigen Moment der Horizonterweiterung in einer Lebenskrise – Unfall, Krankheit, Mobbing: „Wenn ich diese Bücher las, war ich nicht länger in einer winzigen Welt eingesperrt. Ich fühlte mich nicht länger ans Haus und an mein Bett gebunden. Ich sagte mir, dass ich letzten Endes nur an mein Gehirn gebunden war, und das war eigentlich kein bedauernswerter Zustand.“
Bücher, Emotionen und Resilienzforschung
Resilienzforschung ist ein aktueller Wissenschaftszweig, der ebenfalls auf Literatur Bezug nimmt. Resilienz bezeichnet jenes Verhalten, das Menschen in misslichen Lagen hilft, diese möglichst unbeschadet zu überwinden. So kann Ruth Klügers 1992 im Wallstein Verlag erschienener Roman „weiterleben. eine jugend“ als Beispiel des Überlebens des Holocaust, konkret mehrerer Konzentrationslager, gelesen werden. Auch Biographien wie etwa „Die Wüstenblume“ von Waris Dirie (1998) dienen als Beispiel dafür, dass es das Entrinnen geben kann.
Eine Bibliothek ist keine Psychotherapiepraxis und keine onkologische Station, auf der Lebenskrisen mit ausgebildeten TherapeutInnen bearbeitet werden sollen bzw. können. Eine Bibliothek wählt aber Bücher aus, bildet mit dieser Auswahl Leben ab und gestaltet Thementische – Tätigkeiten, die viel mit Bibliotherapie im weitesten Sinn zu tun haben. Sich als Partnereinrichtung in/von Krankenhäusern, Kuranstalten, ÄrztInnenpraxen zu positionieren, ist ganz im Sinne des Grundauftrags der Bibliotheken, nämlich ein Ort für alle zu sein.
„Ich gebe zu: Ich schreibe so gerne, weil ich das Leben liebe.“ (Karl-Markus Gauß: Lob der Sprache, Glück des Schreibens)
Literatur:
- Barbara Bräutigam: Die Heilungskräfte des starken Wanja. Kinder- und Jugendliteratur in der Beratung und Therapie mit Kindern und Jugendlichen. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 2009.
- Gavin Extence: Das unterhörte Leben des Alex Woods oder warum das Universum keinen Plan hat Deutsch von Alexandra Ernst. München: Limes Verlag 2014.
- Erich Fenninger (Herausgeber), Dagmar Fenninger-Bucher, Teresa Millner-Kurzbauer : Ich bin, wer ich war. Mit Demenz leben. St. Pölten u. a.: Residenzverlag 2014.
- Arno Geiger: Der alte König in seinem Exil. München: Hanser 2011.
- Karl-Markus Gauß: Lob der Sprache, Glück des Schreibens. Salzburg: Otto Müller Verlag 2014.
- Elisabeth Steinkellner und Michael Roher: Die neue Omi. Wien: Jungbrunnen 2011. - [32] S. : überw. Ill.
- Ulf Nilsson: Als Oma seltsam wurde. Frankfurt a. M.: Moritz-Verl. 2008. - 34 S. : zahlr. Ill. (farb.)
- Josef Winkler: Winnetou, Abel und ich. Berlin: Suhrkamp 2014