Leselust statt Leseknick
Die bildungspolitische Kernbotschaft der PISA-Studie lautet: Immer noch geht ein beträchtlicher Anteil an Kindern und Jugendlichen leer aus, wenn es um die Verteilung einer entscheidenden "Eintrittskarte" ins Leben geht – der Kulturtechnik Lesen, der unentbehrlichen Schlüsselqualifikation und Voraussetzung für den lebenslangen Bildungserwerb, gerade in Zeiten der digitalen Medien. Während laut Studien – wie der JIM-Studie zum Informations- und Medienverhalten von Jugendlichen oder der KIM-Studie zum Stellenwert von Medien im Alltag von Kindern des Medienpädagogischen Forschungsverbundes Südwest – der Fernseh-, Computer- und Internetkonsum mit dem Alter steigt, nimmt das Freizeitlesen bei Kindern ab zehn Jahren ab: Durchschnittlich maximal 30 Minuten lesen Kinder in diesem Alter täglich außerhalb der Schule Bücher oder Zeitschriften.
Leseknick und Lesekrise
Denn gerade zwischen zehn und zwölf Jahren kommt es oft zum "Leseknick" oder zur "literarischen Lesekrise" – es verändern sich die Lesestoffe, die Häufigkeit des Lesens und auch die Medien, die dafür genutzt werden. Vor allem das Leseverhalten von Mädchen und Buben driftet auseinander und sie entwickeln sich zu Leserinnen und Lesern mit unterschiedlichen Vorlieben weiter. Oft sind es die Buben, die vor allem sachbezogen lesen oder zu Nichtlesern werden. Häufig sind es die Mädchen, die zurück zum intimen, ästhetischen Lesen gehen.
Lesen wird in diesem Alter oft als "lästige Pflicht" und (schulische) Arbeit empfunden, in der (Vor-)Pubertät gewinnen zudem andere Themen an Attraktivität. Lesemotivation hängt jetzt auch stark mit dem persönlichen Umfeld zusammen: Welche Medien stehen in der Familie zur Verfügung? Was lesen die Freundinnen und Freunde? Wie ist das Leseklima an der Schule? Welche Angebote gibt es in der örtlichen Bibliothek? Aus diesen positiven oder negativen Erfahrungen ergibt sich, welchen Stellenwert das Lesen weiterhin einnimmt.
Bandbreite an Lesestoffen und Medien
Schulische und außerschulische Leseförderung in Bibliotheken etc. muss darum mit vielfältigen Methoden und Zugängen versuchen, für Kinder dieses Alters weiterhin erlebbar zu machen, dass die Beschäftigung mit Sprache, mit Texten aller Art Spaß macht und sinnvoll ist. Dabei darf sie sich nicht nur auf das Buchlesen und auf erzählende Literatur beschränken – vielmehr sollte die gesamte Bandbreite an Lesestoffen und Medien genutzt werden. Sach-/Wissenschaftsbücher, Graphic Novels (Comicromane), Lesematerialien des Alltags (Prospekte, Kataloge, Bedienungsanleitungen …), Hörbücher, Lernsoftware (z. B."„Antolin"), Inhalte aus dem Internet oder Elemente der Kinderpopkultur wie Bücher zu TV-Serien, Musik- oder Fan-Zeitschriften stellen eine willkommene Ergänzung dar. Zeitungen (z. B. "Kleine Kinderzeitung") und Zeitschriften (z. B. "Geolino") nehmen die Scheu vor langen Texten und eröffnen die Möglichkeit, sich mit komplexen Themen auseinanderzusetzen und Orientierung in der Welt der Information zu finden. Zu vielen Büchern gibt es mittlerweile Apps für das Smartphone oder den Tablet-PC (z. B. aus dem Oetinger oder Carlsen Verlag) sowie dazugehörige Websites mit Aufgabenstellungen, die die Brücke von traditionellen zu digitalen Medien spannen.
Leseförderung für Kinder ab zehn Jahren muss somit verschiedene Medien, Textarten und Lesestrategien im Blick haben, keinesfalls sollten gedruckte und digitale Medien gegeneinander ausgespielt werden – elektronische Medien unterstützen gegebenenfalls sogar die Lesemotivation.
Passende Angebote und Projekte
Darüber hinaus sind alle um Leseförderung Bemühten – Öffentliche Bibliotheken, Schulbibliotheken, Eltern, LehrerInnen/PädagogInnen, Leseinitiativen etc. – besonders gefragt, die Heranwachsenden durch entsprechende, auch geschlechtssensible (!) Angebote wie
- Medienkompetenz-Workshops oder Schreibwerkstätten, die so auch die sprachliche Ausdrucksfähigkeit fördern,
- Begegnungen mit AutorInnen, die eine klassische Lesung mit einem Workshop verbinden und so leseanimatorisch wirken
- oder "Do it yourself"-Comic-/Manga-Zeichenworkshops
weiterhin fürs Lesen zu begeistern und so einer Entwicklung zu absoluten NichtleserInnen vorzubeugen.
Ebenso bieten sich Projekte an, die Sachthemen aus der Lebens- und Interessenswelt der Kinder aufgreifen. Um schwache LeserInnen zu fördern, sollte deren Lesemotivation geklärt werden. Stehen sie dem Lesen grundsätzlich positiv gegenüber, können sie dem Lesen etwas Nützliches abgewinnen? Die Lesemotivation zu heben kann dadurch gelingen, dass Kinder einfache Texte erhalten, die ihrem Leseniveau und vor allem ihren inhaltlichen Interessen entsprechen, z. B. Informationstexte, aus denen ein gegenstandsbezogener Leseanreiz und Nutzen entstehen kann. Besonders gut geeignet zur Leseförderung von schwachen LeserInnen ist außerdem das "embedded reading". Dabei werden den Kindern Aufträge gegeben, zu deren Durchführung das Lesen unterschiedlicher Textformen sowie das Schreiben eigener Texte erforderlich sind. Da diesen Projekten nicht von vornherein "Leseförderung" als (Teil-)Ziel zugeschrieben wird, werden bei schwächeren LeserInnen weniger Versagensängste aktiviert.
Um die Leselust auch in dieser Phase der Lesesozialisation zu erhalten und zu fördern, ist in jedem Fall ein Anknüpfen an die individuellen Interessenslagen der Kinder unumgänglich – Lesevorlieben sind unterschiedlich! Nicht jedes Kind findet den Zugang zu Fantasyromanen oder Büchern mit geschichtlichem Hintergrund, nicht jeder Bub mag nur Sachbücher, und man kann auch nicht alle Mädchen für Pferdebücher begeistern.
Weiterführende Literatur
- Andrea Bertschi-Kaufmann (Hrsg.): Lesekompetenz – Leseleistung – Leseförderung. Grundlagen, Modelle und Materialien. Klett und Balmer Verlag 2010.
- Katrin Müller-Walde: Warum Jungen nicht mehr lesen – und wie wir das ändern können. Campus Verlag 2010.
- Maik Philipp: Lesesozialisation in Kindheit und Jugend. Lesemotivation, Leseverhalten und Lesekompetenz in Familie, Schule und Peer-Beziehungen. Kohlhammer Verlag 2011.