Digitale Medien – Potenziale und Einsatz in der Leseförderung
AutorIn:
Simone Ehmig
„Sie chatten mehr und lesen weniger“ - die Schlagzeile des Tagesspiegel vom 16.11.2016[i] zum Medienverhalten Jugendlicher steht exemplarisch für pessimistische Zukunftsszenarien, die digitale Medien verantwortlich für den Rück- oder gar Untergang des Lesens machen. Auf den ersten Blick scheint die These nachvollziehbar und bestätigt durch Autoren, die vor „digitaler Demenz“, „digitalem Burnout“ oder „digitalem Debakel“ warnen.[ii]
So plausibel die Prognosen klingen, so wenig sind sie haltbar, denn ein Rückgang des Lesens gedruckter Bücher ist empirisch nicht belegt. Der Anteil der (Buch-) LeserInnen in Deutschland ist seit Ende der 90er Jahre des 20. Jahrhunderts mit geringfügigen Schwankungen konstant: 1998 haben 38 % der 12–19-Jährigen und 36 % der Erwachsenen täglich oder mehrmals pro Woche in Büchern gelesen. 2016 waren es 38 bzw. 35 %. Demgegenüber gibt es unter Jugendlichen und Erwachsenen inzwischen kaum noch jemanden, der bzw. die nicht täglich online ist.[iii] Die Nutzung von digitalen Angeboten geht also offenbar nicht zu Lasten der Bücher.
Das eigentliche Problem liegt nicht in der Konkurrenz digitaler Medien, sondern in den Zugangsvoraussetzungen eines beträchtlichen Teils der Bevölkerung zum Lesen: (zu) vielen fehlt die Lesekompetenz. Mindestens 7,5 Millionen Erwachsene in Deutschland haben Schwierigkeiten, selbst einfache Texte zu lesen und zu schreiben. Und das Problem wächst nach: Die PISA-Studie 2016 identifizierte bei 16,2 % der 15-Jährigen unzureichende Lesefähigkeiten. 23 % der SchülerInnen weiterführender Schulen erreichen nicht die Mindeststandards im Lesen.[iv] Um den Teufelskreis aus unzureichenden Lesekompetenzen und Bildungsbenachteiligung zu durchbrechen, bedarf es einer flächendeckenden und niedrigschwelligen Förderung von Lesekompetenz und – damit untrennbar verbunden – Lesefreude und Lesemotivation. Dafür bieten digitale Medien Anknüpfungspunkte und Potenziale.
- Die Nutzung digitaler Medien bedeutet einen Zugewinn an effektiver Lesezeit. 51 % der Online-Aktivitäten von Jugendlichen – Kommunikation und Informationssuche – erfordern unbedingt, dass gelesen (und geschrieben) wird.[v] Auch für Spiele oder den Up-/Download von Musik, Videos, Bildern usw. ist das Lesen teilweise erforderlich. Vorsichtig geschätzt wird man davon ausgehen können, dass bei der Hälfte bis zwei Dritteln aller Online-Aktivitäten gelesen wird. Rechnet man nur 60 % der Zeit, die Erwachsene online sind, zu der Zeit hinzu, die sie mit dem Lesen von Printmedien verbringen, so hat sich die durchschnittliche tägliche Lesedauer zwischen dem Jahr 2000 und 2015 um 45 Minuten verlängert. Die reine Nutzung gedruckter Bücher, Zeitungen und Zeitschriften ist in diesem Zeitraum um 11 Minuten zurückgegangen.[vi]
- Digitale Medien sprechen Lesergruppen an, die gedruckte Medien nicht oder nicht mehr nutzen. So gelingt es beispielsweise den Tageszeitungen, mit ihren digitalen Angeboten junge LeserInnen zu gewinnen und so ihre Reichweiten zu halten, obwohl in dieser Altersgruppe deutlich weniger klassische Abonnements abschließen als unter älteren ZeitungsleserInnen.[vii]
- Digitale Trägermedien bieten Zugänge zu Zielgruppen, die mit gedruckten Angeboten schwieriger zu erreichen sind. Dies liegt u. a. daran, dass digitale Trägermedien wie Tablet-PCs inzwischen unabhängig von sozialer Schicht und Bildungsniveau in nahezu allen Haushalten verfügbar sind. So können theoretisch alle Eltern z. B. auf Vorlese-Apps zugreifen. Väter, die in der Regel schwerer zum Vorlesen zu motivieren sind als Mütter, mögen gerade Vorlese-Apps besonders gern, weil sie die Animationen, Geräusche usw. faszinierend finden.[viii]
- Digitale Angebote bedeuten einen Zugewinn an (Vor-) Leseanlässen und -situationen. So schätzen Eltern beispielsweise an Bilder- und Kinderbuch-Apps, dass sie ihren Kindern damit auch unterwegs und zwischendurch vorlesen können, wenn kein gedrucktes Buch zur Hand ist. Erwachsene nutzen E-Books situativ vor allem als Unterwegs-Medien, z. B. im Zug, bei Flugreisen usw.[ix]
Die Potenziale digitaler Medien erfordern in der Leseförderung eine Erweiterung des stark print- und literaturzentrierten Verständnisses von „Lesen“, das in lese- und bildungsfernen Umgebungen geradezu dysfunktional ist: Warum das Lesen (besser) lernen, wenn man sich weder für die Werke von Goethe und Schiller interessiert noch selbst Romane schreiben möchte? Gerade die Alltäglichkeit und Selbstverständlichkeit digitaler Medien können dazu beitragen, die Freude an der Nutzung von Inhalten zu wecken, die das Lesen erfordern – und damit ohne pädagogischen Zeigefinger zum Lesen animieren.
Besonders Eltern haben Orientierungs- und Beratungsbedarf im Bereich digitaler Medien. Hier gilt es, mit sachlicher Information, Beispielen und konkreten Empfehlungen Ängste zu nehmen und Zugänge zu erleichtern. Ein Beispiel, wie dies gelingen kann, sind die „Digitalen Lesewelten“ der Stiftung Lesen (https://www.stiftunglesen.de/initiativen-und-aktionen/digitales/).
[i] http://www.tagesspiegel.de/wirtschaft/freizeitverhalten-von-jugendlichen-sie-chatten-mehr-und-lesen-weniger/14851782.html (alle Links abgerufen am 18.4.2017)
[ii] Spitzer, Manfred: Digitale Demenz. Wie wir uns und unsere Kinder um den Verstand bringen. München 2012; Markowetz, Alexander: Digitaler Burnout. Warum unsere permanente Smartphone-Nutzung gefährlich ist. München 2015; Keen, Andrew: Das digitale Debakel. Warum das Internet gescheitert ist – und wie wir es retten können. München 2015.
[iii] Die Daten zu den Jugendlichen enthalten die JIM-Studien 1998-2016 des Medienpädagogischen Forschungsverbundes Südwest (http://www.mpfs.de/studien/?tab=tab-18-1), zu den Erwachsenen vgl. Börsenverein des Deutschen Buchhandels: Buch und Buchhandel in Zahlen 1998-2000 und 2002-2016.
[iv] Grotlüschen, Anke, Wibke Riekmann: leo. – Level-One Studie. Literalität von Erwachsenen auf den unteren Kompetenzniveaus. Hamburg 2011 (http://blogs.epb.uni-hamburg.de/leo/); OECD: Programme for the International Student Assessment (PISA). PISA 2015 Ergebnisse Deutschland (http://www.oecd.org/pisa/pisa-2015-Germany-DEU.pdf); Stanat, Petra, Katrin Böhme, Stefan Schipolowski, Nicole Haag (Hrsg.): IQB-Bildungstrend 2015. Sprachliche Kompetenzen am Ende der 9. Jahrgangsstufe im zweiten Ländervergleich. Zusammenfassung. Münster 2016 (https://www.iqb.hu-berlin.de/bt/bt/BT2015/BT_2015_Zusammen.pdf).
[v] JIM-Studie des Medienpädagogischen Forschungsverbundes Südwest 2016 (https://www.mpfs.de/fileadmin/files/Studien/JIM/2016/JIM_Studie_2016.pdf).
[vi] Die Ausgangsdaten sind zu finden in Reitze, Helmut, Christa-Maria Ridder (Hrsg.): Massenkommunikation VIII. Eine Langzeitstudie zur Mediennutzung und Medienbewertung 1964-2010. Baden-Baden 2010, S. 57 und Reitze, Helmut (Hrsg.): Massenkommunikation VII/VIII. Massenkommunikation 2015: Mediennutzung im Intermediavergleich. Frankfurt am Main 2015, S. 310.
[vii] Zeitungs Marketing Gesellschaft nach Erhebungen der Arbeitsgemeinschaft Media Analyse 2016 (http://www.die-zeitungen.de/argumente/reichweiten.html).
[viii] Stiftung Lesen: Vorlesestudie 2012: Vorlesen mit Bilder- und Kinderbuch-Apps. Repräsentative Befragung von 250 Vätern und 250 Müttern. Mainz 2012.
[ix] Börsenverein des Deutschen Buchhandels: Verankert im Markt - Das E-Book in Deutschland 2013 (http://www.boersenverein.de/sixcms/media.php/976/Kurzversion_E-Book-Studie2014.pdf).