Die Literatur der Schweiz

Die Literatur der Schweiz hat viele Gesichter, nicht nur wegen der Mehrsprachigkeit der Alpenrepublik. Die jüngere AutorInnengeneration der Schweiz deckt ein breites Themenspektrum ab und ist zugleich so erfolgreich wie kaum eine vorhergehende.

AutorIn: 
Alexander Kluy


„Die Schweiz als ‚Sonderfall’, als ‚Willensnation’, als Insel der Unabhängigkeit und Neutralität, die Heidi-Schweiz und die Wilhelm-Tell-Schweiz, die Schweiz der ewigen Gletscher und der Alpenrosen, der glücklichen Bergbauern und der Soldaten an der Grenze eines feindlichen Europas, aber ebenso die Schweiz der Sackmesser und der Uhren, der Schokolade und des Käses, und natürlich: die Schweiz der geheimen Kontonummern: Diese sattsam herumgebotene Schweiz der Klischees, der Legenden und der Vorurteile existiert wohl wirklich nur in den Mythen und sieht in Wirklichkeit ganz anders aus.“ So leitete Iso Camartin, vormals Professor für rätoromanische Literatur und Kultur in Zürich, ein Buch über sein Heimatland, die Schweiz, ein. (1)

 

Vier Sprachen – unterschiedliche Ausrichtungen

1992, auf der Weltausstellung in Sevilla, wurde die Formel „La Suisse n’existe pas“ kreiert, die Schweiz gibt es nicht, was Debatten auslöste. 2014 wurde der Auftritt als Gastland der Leipziger Buchmesse vom Schweizer Buchhändler- und Verlegerverband SBVV unter das Schlagwort „Auftritt Schweiz“ gestellt. Inklusive Auftritten und Lesungen von 70 (existierenden) Autorinnen und Autoren sowie einer elektronischen Literatur-Landkarte der Schweiz mit Lebensorten und Schauplätzen, realen und vorgestellten Literaturorten. (2)

 

Orientiert sich die französischsprachige Literatur der Schweiz traditionell nach Frankreich, so ist Literatur aus der italienischsprachigen Schweiz nahezu gar nicht in Programmen Außerschweizer deutschsprachiger Verlage vertreten. Jüngste Ausnahme dieser Regel: „Die Brille des Gionata Lerolieff“, der Roman des 1928 geborenen Tessiners Giovanni Orelli, den 2014 der Bonner Weidle Verlag herausbringt. Literatur in rätoromanischer Sprache spielt außerhalb der rätoromanischen Sprachinsel keine Rolle – auch wenn Arno Camenisch (geboren 1978) aus Graubünden für „Sez Ner“ (2009) und „Ustrinkata“ (2012) mit Preisen ausgezeichnet wurde und derzeit als erfolgreichster Absolvent des Schweizerischen Literaturinstituts in Biel gilt.

 

Beliebt, Bestseller, Rückkehrer

Weitaus bekannter ist die Generation deutsch schreibender Autorinnen und Autoren, die nach dem Tod Friedrich Dürrenmatts und Max Frisch’ hervortrat. Der Doyen dieser Jüngeren, der Romancier und emeritierte Germanistikprofessor Adolf Muschg, begeht 2014 seinen 80. Geburtstag. Erfolgreich ist in den letzten Jahren mit phantasievoll autobiographischen Büchern der 2014 verstorbene Urs Widmer gewesen. Die Bestsellerlisten der Schweiz, Deutschlands und Österreichs haben hingegen drei andere Schweizer gestürmt: Martin Suter, Alex Capus und Peter Stamm.

 

Thomas Hürlimann („Der große Kater“, 1998), Franz Hohler mit vielen Büchern für Kinder und Erwachsene gleichermaßen, Charles Lewinsky („Melnitz“, 2006), Katharina Faber („Fremde Signale“, 2008), Melinda Nadj Abonji, die 2010 für „Tauben fliegen auf“ den Deutschen Buchpreis und den Schweizer Buchpreis erhielt, Rolf Lappert („Nach Hause schwimmen“, 2008), Tim Krohn („Aus dem Leben einer Matratze bester Machart“, 2014), Urs Augstburger („Als der Regen kam“, 2012), Christoph Simon („Spaziergänger Zbinden“, 2010), Catalin Dorian Florescu („Jacob beschließt zu lieben“, 2011) und Alain Claude Sulzer („Zur falschen Zeit“, 2010) sowie der Germanist und Essayist Peter von Matt (3) haben sich jenseits des „Rösti-Grabens“ zwischen helvetischer Enge, Flucht und Kosmopolitismus – Themen, die die Bücher des 1929 geborenen Schweizer Wahl-Parisers Paul Nizon durchziehen – einen Namen gemacht. (4)

 

In jüngster Zeit zum Bestsellerautor aufgestiegen ist, ebenso überraschend für ihn wie für den Salis Verlag, Thomas Meyer, der, inspiriert von Philip Roth, ein für die Schweiz eher ungewöhnliches Thema aufgegriffen hat: Judentum und jüdische Identitätssuche. Joël Dicker ist mit seinem Millionenseller „Die Wahrheit über den Fall Harry Dicker“, für den der 1985 geborene Genfer namhafte französische Literaturpreise erhielt, ein internationales Phänomen.

 

Zu Schweizer Verlagen zurückgekehrt sind Gerold Späth und Dante Andrea Franzetti. (5) Dem 1989 verstorbenen Hermann Burger, dessen Bücher zu Lebzeiten bei S. Fischer und Suhrkamp erschienen sind, wird 2014 eine achtbändige Werkausgabe zuteil, ausgerichtet vom Zürcher Verlag Nagel & Kimche. Dieser ist Teil des deutschen Verlags Carl Hanser.

 

Buchmarkt und Buchhandelssituation

Die Situation unabhängiger Schweizer Verlage, vom ambitionierten Bilger Verlag über den Basler Christoph Merian Verlag bis zum Unionsverlag und Zytglogge, ist ganz überwiegend durch Kleinteiligkeit und überschaubare Mitarbeiterzahlen gekennzeichnet sowie durch Regionalismus – der sich auch literarisch niederschlägt: „Dr Goalie bin ig“, ein in Berndeutsch geschriebener Roman von Pedro Lenz, ist seit Erscheinen 2010 eines der meistverkauften Bücher im Raum Bern (die hochdeutsche „Übersetzung“ erschien 2012, die Verfilmung lief im Frühjahr 2014 in Schweizer Kinos an).

 

Ausnahme ist der Diogenes Verlag aus Zürich, der wie Dörlemann in Zürich (Schwerpunkt: Klassiker der Moderne) und Lenos in Basel (Literatur aus Arabien) dezidiert international ausgerichtet ist

 

Ein in den letzten Jahren akut gewordenes Problem für Schweizer Verlage ist der Wechselkurs des Schweizer Frankens zu den umgebenden Euro-Nachbarländern gewesen.

 

Im Schweizer Buchhandel wurde 2012 rund eine Milliarde Franken umgesetzt. Davon wurden 660 Millionen Franken in der deutschsprachigen Schweiz erwirtschaftet. Nach vier aufeinander folgenden Jahren mit teils markant einbrechenden Umsätzen stabilisierten sich diese im Jahr 2012. Der Umsatzrückgang der Schweizer Buchbranche seit 2007 beläuft sich auf 12,2 Prozent.

 

Deutschschweizer haben im vergangenen Jahr knapp 20 Millionen Bücher gekauft. 40 Prozent machte Belletristik aus, gefolgt von Kinder- und Jugendbüchern (18,7 Prozent) und Ratgebern (14,8 Prozent).

 

Am 18. März 2012 wurde bei einer Volksabstimmung der Antrag, die 2007 abgeschaffte Buchpreisbindung wieder einzuführen, wofür der Schweizer Buchhändler- und Verleger-Verband SBVV plädierte, mit 56,1 Prozent zu 43,9 Prozent der abgegebenen Stimmen abgelehnt. Die Auswirkungen der Preisliberalität sind mittlerweile vor allem in kleineren Städten und bei kleineren Sortimentsbuchhandlungen unübersehbar, treffen mittlerweile aber auch größere Filialisten. Der Trend von landesweit im Schnitt zehn Schweizer Buchhandlungen pro Jahr, die ihre Tätigkeit einstellen, hat sich 2012 fortgesetzt, ein verglichen mit den Nachbarländern ungewöhnlich hoher Wert. (6) Die Schweiz – eben ein Sonderfall.

 

Anmerkungen:

(1) Iso Camartin: Schweiz. C. H. Beck Verlag, München 2. Aufl. 2011.
(2) Siehe http://www.auftritt-schweiz.ch/de
(3) Peter von Matt: Das Kalb vor der Gotthardpost. Zur Literatur und Politik der Schweiz. Carl Hanser Verlag, München 2012; derselbe: Die tintenblauen Eidgenossen. Über die literarische und politische Schweiz. Carl Hanser Verlag, München 2001.
(4) Weiterführendes zum Schriftstellerverband „Autorinnen und Autoren der Schweiz“ auf der Website http://www.a-d-s.ch
(5) Siehe die Website des Lenos Verlags www.lenos.ch
(6) Siehe http://www.auftritt-schweiz.ch/sites/default/files/files/Marktreport%202012_Sortimentsbuchhandel%20DS_Final.pdf

 

 

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