Comics? Kinderkram!

Graphic Novels für Erwachsene boomen. Entsprechende qualitätsvolle Angebote auf dem Kinderbuchmarkt sind hingegen rar gesät und gehen neben schnell produzierter Massenware unter. Die Kinderliteratur versucht hier aufzuholen, indem sie Sujets und Formensprache von Comics (neu) entdeckt.

AutorIn: 
Christina Ulm


„Als ich klein war, wusste ich ganz genau, was Comics sind. Comics waren diese knallbunten Hefte mit schlechten Zeichnungen, blöden Geschichten und Typen in Strumpfhosen.“ In seinem Grundlagenwerk „Comics richtig lesen. Die unsichtbare Kunst“ (Carlsen 2001) beschreibt Scott McCloud seine früheren Vorurteile gegenüber Bildgeschichten. Mit seinen Vorwürfen – die der heutige Comic-Liebhaber und -Theoretiker bald revidiert hat – entspricht er vielen Argumenten der Schmutz- und Schundkampagnen, die Comics in den 1950er-Jahren als jugendgefährdend einstuften: Comics als Quelle von Gewalt und Sex, als stupides Medium mit „massenhaftem Auftreten der Bilder“, das Analphabetismus fordere.

 

Paradoxerweise waren es aber genau jene Bewegungen, die Comics von Kindern fernzuhalten versuchten, die den Comic schließlich zu einem Medium für Kinder machten: Aus Selbstzensur beschränkten sich die Verlage auf harmlose Inhalte. Es sollte Jahrzehnte dauern, bis sich Comics für Erwachsene – unter dem seriösen Begriff „Graphic Novel“ – auf dem Buchmarkt wieder durchsetzen konnten.

 

Comics als Lockmittel

Heute können Comics relativ unbeschadet von solchen Einschätzungen erscheinen – dennoch hat sich auf einen zweiten Blick nicht viel geändert. Nach wie vor gelten Comics als Lektüre zweiter Klasse und nach wie vor sind Strumpfhosen en vogue: an Superhelden, die in der Literatur für Kinder immer wieder neu revitalisiert werden. „Spaß am Lesen mit den Superhelden!“ verspricht zum Beispiel der Fischer Verlag und legte 2012 jeweils zehn Erstlesebücher rund um Batman und Superman vor. Ein ambitioniertes Projekt, das unter dem Motto „Nur fur Jungs“ und mittels „coolen Helden, fiesen Schurken und jeder Menge Action“ das angeblich leseschwächere Geschlecht zur Lektüre führen soll. Interessant dabei erscheint die Loslosung aus dem originären Medium: Denn bis auf vereinzelte in den Text gesondert gesetzte Soundwords (z. B. „WUUUSCHHHHHHH!!“) können die Bände nicht als Comics im engeren Sinn bezeichnet werden. Vielmehr wird hier ein berühmtes Sujet der Szene entnommen und in traditionelle Literatur verpackt. Inhalte aus Comics funktionieren so als lesepädagogisches Lockmittel, das einfaches Lesen suggerieren soll.

 

Ähnlich lässt sich der Erfolg der Buchreihe „Gregs Tagebuch“ von Jeff Kinney (Baumhaus) erklären. Hier ist es allerdings nicht ein spezifischer Inhalt, der dem Comic-Markt entlehnt wurde, sondern das Formeninventar, das den Prosatext ergänzt: stilisiert gezeichnete Figuren mit Sprechblasen, sequenzielle Bildfolgen oder Speedlines (Bewegungsstriche) in den Zeichnungen.

 

Formensprache der Comics

„Comics sind kein Genre, sondern ein Medium, das jedes Genre fassen kann“, so Sebastian Broskwa vom österreichischen Comic-Vertrieb Pictopia. Charakteristikum dieses Mediums ist die eigene Zeichensprache, die auch in illustrierten Büchern oder Bilderbüchern Einzug hält. Bücher wie „Meine Mutter ist in Amerika und hat Buffalo Bill getroffen“ von Emile Bravo und Jean Regnaud (Carlsen 2009) oder „Bink & Gollie: Unzertrennlich“ von Kate DiCamillo, Alison McGhee und Tony Fucile (dtv 2010) bewegen sich zwischen den einzelnen Medien und nutzen Comic-eigene Erzählstrategien wie klug arrangierte Panels (Einzelbilder). Durch die jeweils abgeschlossene Erzählung und den hohen künstlerischen Anspruch heben sie sich von vielen anderen (seriell erscheinenden) Comics für Kinder deutlich ab.

 

Für beide Bücher kann somit der Begriff „Graphic Novel“ übernommen werden. Als Marketingstrategie entworfen, bezeichnet er anspruchsvolle grafische Romane. Für Erwachsene und Jugendliche gibt es mittlerweile eine Fülle an solchen Publikationen, für Kinder stellen entsprechende Bücher allerdings noch eine Ausnahmeerscheinung dar.

 

Kulturtechnik Comiclesen

Dies mag daran liegen, dass Comics (vor allem jenen für Kinder) nach wie vor eine gewisse Simplizität nachgesagt wird, der die aktuelle Marktsituation entspricht. Im besten Fall finden Comics in der Leseförderung als Einstiegsdroge Verwendung, wie etwa die „Literaturcomics“ aus dem Hause Brockhaus zeigen – Klassiker der Weltliteratur im schlichten grafischen Gewand.

 

Dass gut gemachte Comics mindestens ebenso herausfordernd zu lesen sind wie „richtige“ Bücher, muss sich als Leitgedanke im Umgang mit diesem wiederentdeckten Medium erst durchsetzen. Die Entwicklung der Kompetenz, sequenzielle Bildfolgen zu rezipieren und die Lücken zwischen den Bildern – die sogenannten Rinnsteine – mit eigenen Vorstellungen zu füllen, bedarf spezifischer Forderung und entsprechender Angebote. Einerseits müssen Comics hürdenlos zugänglich gemacht und die Comic-Szene von ihrem Nischendasein befreit werden. Immer mehr öffentliche Bibliotheken bieten Comic- und Graphic-Novel-Bestände, in Wien verfolgt auch die neue Comics-Box neben der U4-Station Pilgramgasse dieses Ziel. Die Bibliothek im Freien lädt mit mehr als 400 Comics und einer abwechslungsreichen Programmschiene zum unmittelbaren Lesen vor Ort ein.

 

Andererseits muss der Buchmarkt auf den Bedarf an anspruchsvollen Publikationen reagieren: Der renommierte Verlag Reprodukt, der seit vielen Jahren Graphic Novels für Erwachsene herausgibt, hat diese überraschende Lücke erkannt und verlegt seit März 2013 mit Büchern von Ulf K. oder Emmanuel Guibert auch für Kinder ab drei bzw. sechs Jahren – unter dem ironischen Slogan „Comics werden wieder Kinderkram!“.

 

Es bleibt zu hoffen, dass viele Büchereien und Verlage hier nachziehen und der Comic-Szene nicht nur ihre erfolgreichen Strumpfhosen-Sujets entnehmen, sondern dabei helfen, Comics als qualitätsvolles Medium auch für Kinder zu etablieren.

 

 

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