Kinder und Lyrik

Ob Reim, Lied oder Ballade – Lyrik für Kinder gibt es in verschiedensten Erscheinungsformen. Sie können jungen LeserInnen helfen, den kreativen Umgang mit Sprache zu erfahren.

AutorIn: 
Christina Ulm


„Ene Mene Muh. Und …“ Kinderreime – als einfachste literarische Form – sind durch die mündliche Tradierung und den situativen Gebrauch fester Bestandteil kindlicher Spracherfahrung, sodass nicht nur jedes Kind diese Zeile scheinbar intuitiv zu vervollständigen weiß. Wortlaut, Melodie und Rhythmus können im Kinderreim erprobt werden, wodurch er auch dem spielerischen Charakter des Spracherwerbs entspricht: Eignen sich Kinder Sprache an, passieren Sprachspiel oder Wortneuschöpfungen ganz automatisch. Demnach verwundert es nicht, dass die gesamte Kinderliteratur ein Faible für lyrische Ausdrucksformen hat: Ob gereimte Bilderbuchtexte, lautmalerische Passagen in Geschichten oder ganze Romane in Versform. All das sind Bestandteile sogenannter formgebundener Sprache. Sie grenzt sich von  Alltagssprache durch einen besonderen Klang oder abstrakteren Inhalt ab und verdichtet Erfahrungen auf wenige Wörter.

 

Lied, Reim, Gedicht oder Lyrik?

Formgebundene Sprache kennzeichnet sowohl das Kinderlied, den Kinderreim, das Kindergedicht oder eben die Kinderlyrik – Begriffe, die oft gleichbedeutend gebraucht werden. Auch wenn Versuche einer Typologie problematisch sind, festhalten lässt sich, dass Kindereim und Kinderlied oft volkstümlich überliefert sind (wie „Ene Mene Muh“), während Kinderlyrik oft von einer Autorin oder einem Autor explizit für Kinder verfasst wurde und ebenso viele Raffinessen kennt wie Lyrik für Erwachsene.

 

Beide Varianten werden in zahlreichen Anthologien gesammelt, davon seien zwei Wegbereiter genannt: Hans Magnus Enzensberger hat sich mit seiner Sammlung „Allerleirauh“ im Bereich des Kinderreims verdient gemacht, während sich Hans-Joachim Gelberg für Kinderlyrik engagiert. Als Verleger hat er zahlreiche Gedichtsammelbände (u.a. „Überall und neben dir“ bei Beltz & Gelberg) herausgegeben und viele SchriftstellerInnen dazu angeregt, Gedichte zu verfassen, die der kindlichen Lebenswirklichkeit entsprechen.

 

Präsentationsformen von Kinderlyrik

Über diese Sammlungen hinaus, die altes und neues assoziativ zueinander stellen, gibt es noch anderer Präsentationsformen: So vereint die Reihe „Gedichte für neugierige Kinder“ (Boje) Bände renommierter AutorInnen, illustriert von jeweils einem Künstler oder einer Künstlerin. Unter ihnen etwa Mascha Kaléko & Verena Ballhaus oder Jan Koneffke & Christoph Mett. Diese Bündelung mehrerer Gedichte einer Person findet sich auch in anderen Verlagen – auffällig ist, dass diese im Bereich der Kinderliteratur immer auch illustriert sind.

 

Das Bild bietet zusätzlichen Anreiz und leistet nicht selten auch Interpretationshilfe. Im Bereich der illustrieren Lyrik haben sich u.a. die beiden Künstlerinnen Stefanie Harjes und Linda Wolfsgruber einen Namen gemacht, die beide sowohl Anthologien mit Bildwelten bereichern („Sonnenschein und Sternenschimmer“ bei Gerstenberg oder „Warum ist Rosa kein Wind?“ bei Ravensburger), als auch für einzelne UrheberInnen illustrieren. Zum Beispiel im Bereich des lyrischen Bilderbuches: Oft wird ein Gedicht aus einer Sammlung gelöst und auf mehrere Seiten ausgebreitet, oft sind aber auch originäre Bilderbuchtexte lyrischer Art.

 

Besonders Heinz Janisch ist als österreichischer Autor zahlreicher Gedichte für Kinder zu nennen, die sowohl in Sammlungen als auch als Bilderbuchtexte erschienen sind. Den Auszählreim „Ene Mene Muh“ hat er übrigens in „Und du darfst rein“ (Jungbrunnen) gemeinsam mit Helga Bansch zum Einzählreim umgedichtet. Heinz Janischs Oeuvre deckt alle Formen des modernen Kindergedichts ab; eine Werkschau ist hier nicht nur empfehlenswert, sondern repräsentativ. Stimmungslyrik, Reflexionslyrik und Geschehenslyrik nennt Forscherin Magda Motté als drei spezielle Darstellungsvarianten einer Lyrik für Kinder. Die vierte ist zugleich die prominenteste, vor allem in der österreichischen KJL.

 

Sprachspiel

Das Sprachspiel macht Sprache selbst zum Thema und nutzt sie kontextunabhängig, sinnfrei oder sinnstiftend. Entsprechender Meilenstein aus österreichischer Perspektive war „Das Sprachbastelbuch“ (1975) von einem Kollektiv aus Friedl Hofbauer, Ernst A. Ekker, Vera Ferra-Mikura, Mira Lobe, Christine Nöstlinger u.a.

 

In dieser Tradition sind auch die aktuellen gemeinsamen Werke von Gerda Anger-Schmidt und Renate Habinger zu sehen: In ihren Zusammenstellungen unterschiedlichster Sprachspiele folgen sie oft dem Prinzip des ABCs und stellen es gleichsam auf den Kopf. (bspw. „Neun nackte Nilpferdamen“ bei Nilpferd in Residenz)

 

Kinderlyrik ist Lyrik – Lyrik ist Kinderlyrik

Kinderlyrik steht der sogenannten Erwachsenenlyrik in Vielfalt und künstlerischem Anspruch um nichts nach. Trotzdem gibt es Besonderheiten, die Gedichte für Kinder auszeichnen: Neben der verstärkten Lust am Nonsens und dem Schöpfen der Inhalte aus dem kindlichen Erfahrungshorizont weist Kinderlyrik zumeist weniger Abstraktion auf. Vergleiche finden sich so häufiger als Metaphern. Ein ausgezeichnetes Beispiel (auch für gelungene Lyrikübersetzung) ist Edward van de Vendels Lyrikband „Superguppy“ (Boje), wo sich poetische und zugleich greifbare Verse finden wie: „Ich bin wasserwortetaub, / Fisch ist menschenstimmenstill“.

 

Neu arrangiert und bebildert wird auch scheinbar schwierigere Lyrik für Erwachsene für Kinder zugänglich gemacht. Die Reihe „Poesie für Kinder“ bei Kindermann zeigt, dass mit entsprechender (illustrativer) Vermittlung im Bereich der Weltliteratur reizvolle Lektüreangebote gesetzt werden können, auch für das kindliche Publikum!

 

Denn –  so hat Hans-Joachim Gelberg – einmal passend formuliert:

 

„Ein Gedicht ist ein Kindergedicht, wenn ein Kind ein Gedicht liest.“

 

Literatur:

  • Magda Motté: Kinderlyrik. In: Einführung in die Kinder- und Jugendliteratur der Gegenwart. Hg. v. Internationalen Institut für Jugendliteratur und Leseforschung. Wien 1992. S. 25–40.
  • Hans-Joachim Gelberg: Klopfzeichen der Kinderpoesie. In: Aus „Wundertüte“ und „Zauberkasten“. Über die Kunst des Umgangs mit Kinder- und Jugendliteratur. Frankfurt am Main 2000.
  • Klaus Gasperi: Kinderlyrik. Skriptum im Fernkurs Kinder- und Jugendliteratur der STUBE. Reihe spektrum. Hrsg. v. Heidi Lexe und Kathrin Wexberg. Wien 2012.

 

 

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