Die Zukunft ist jetzt

Im Gegensatz zu anderen jugendliterarischen Trends scheinen "Zukunftsromane" noch lange nicht an Popularität zu verlieren. Motive, Themen und Plots sogenannter Future Fiction schildern Problemstellungen der Gegenwart und erzählen sie in eine mögliche Zukunft fort.

AutorIn: 
Christina Ulm


Angesichts der krisengebeutelten Gegenwart kommt zumindest der aktuelle Jugendbuchmarkt dem allgemeinem Sicherheitsbedürfnis entgegen: Übersteigt der Umfang 400 Seiten, hängen am Cover dunkle Wolken über einer verfremdeten Skyline und verbindet der Klappentext Worte wie „Welt“, „Schicksal“ oder „Endzeit“, dann darf man mit Sicherheit eine (vom Verlagsprogramm) sogenannte Dystopie erwarten; also ein düsteres Zukunftsszenario. Spätestens seit dem Erscheinen der populären Trilogie „Die Tribute von Panem“ von Suzanne Collins hat sich der Begriff der Dystopie zum verkaufsfördernden Etikett entwickelt, das verschiedenste düstere Zukunftsvisionen (vom Kometeneinschlag bis zum totalen Überwachungsstaat) zu benennen scheint. Bei genauerer Betrachtung sind allerdings verschiedene jugendliterarische Genreentwicklungen festzustellen. Subsummieren lassen sie sich die gegenwärtigen Tendenzen präziser unter dem Begriff „Future Fiction“. Der gemeinsame Nenner? Die Verortung in der Zukunft.

 

Apokalyptische Szenarien

Für die Ausgestaltungen zukünftiger alternativer Gesellschaften braucht es oft einen Anlass, einen Nullpunkt. Am einfachsten realisieren lässt sich dies mit einem in der (näheren) Zukunft angesiedelten Weltuntergang. In „Die Verratenen“ von Ursula Posznanski, dem ersten Teil einer Trilogie, nennt sich dieses apokalyptische Ereignis etwa die „Lange Nacht“. Nach dem Ausbruch eines ewigen Winters hat sich die Bevölkerung Europas in zwei Lager gespalten: In kuppelförmigen Sphären – konzipiert als Archen – lebt eine scheinbar utopische Gesellschaft. Außerhalb der Sphären herrscht eine Schneewüste, in der die übrig gebliebenen Menschen, genannt Prims – nach „primitiv“ – unter harten Bedingungen überleben müssen; teilweise in den Überresten des alten Wiens. Dass Rias Kultur in punkto Zivilisiertheit diesen scheinbaren Primitiven aber nicht überlegen ist, ist einem weiteren zentralen Motiv der Future Fiction verschuldet: Die erzählte mögliche Zukunft ist in den seltensten Fällen gut, also utopisch, sondern vielmehr von Missständen geprägt, die sich vielleicht erst auf den zweiten Blick zeigen.

 

Dystopie

Der Untergang der Gesellschaft (unserer Gesellschaft?) wird oft in der Retrospektive verhandelt; die Bemühungen und der Zusammenschluss der Überlebenden danach, zeigen, dass solche Texte das post-apokalyptische Szenario oft weiterdenken: Die Welt muss neu geordnet werden, Strukturen neu begründet werden. Aus der Tabula-rasa des Weltuntergangs kann eine neue, möglicherweise dystopische Gesellschaft entstehen.

Die entsprechende Entwicklung ist in vielen Texten gleich: Aus einem apokalyptischen Szenario heraus entwickelt sich eine neue Gesellschaft, die durch Elemente der Science Fiction geprägt und negativ dargestellt ist. Zentral ist dabei oft auch die politische Dimension. Dabei greift die Literatur nicht nur auf die jüngste Geschichte der Diktaturen zurück, sondern auch auf die Machtstrukturen lange überwundener Zeiten. Das Land Panem aus der gleichnamigen Trilogie etwa geht zurück auf „Panem et Circenses“, also „Brot und Spiele“ und verweist auf das Propaganda-Ereignis, das das Kapitol jährlich ausruft: In einer Arena müssen Jugendliche aller Distrikte mit archaischen Waffen gegeneinander kämpfen, bis nur noch einer oder eine am Leben ist.
 

Diese Infragestellung von Menschlichkeit liegt auch dem deutschsprachigen Roman „dark canopy“ von Jennifer Benkau zugrunde. Die Jugendliche Joy muss „nach der Übernahme“ gegen die Machthaber ihrer Welt kämpfen: Die sogenannten Percents, für den Krieg gezüchtete Menschen mit veränderter DNA, haben die letzten verbliebenen Menschen unterjocht und halten ein Gewaltregime aufrecht, in der „dark canopy“ den Himmel auch tagsüber verdunkelt. „Ich weiß nicht, womit die Menschen im dritten Weltkrieg kämpfen. Aber im vierten werden es Keulen und Steine sein.“ Dieses Albert Einstein zugeschrieben Zitat ist dem Text vorangestellt und verweist auf die beschriebene Verbindung von Postapokalypse und Dystopie: Sowohl „Die Tribute von Panem“ als auch „dark canopy“ gehen von einer durch Kriege zerstörten Welt aus, auf deren Trümmern sich ein neues grausames Regime entwickelt hat.

 

Utopie

In jugendliterarischer Future Fiction geht es jedoch nicht um die bloße Etablierung und Beschreibung einer dunklen Zukunft. Denn indirekt erzählt sie fast immer von der Hoffnung auf eine bessere Welt. Getragen von den jugendlichen Figuren – einer neuen Generation: Die Missstände ihrer Welt werden ihnen bewusst, sie wehren sich dagegen zunächst auf individueller Ebene und lösen damit schließlich weitreichende Folgen aus, die das gesamte System zum Einsturz bringen. Wenn man so möchte erzählt Future Fiction also auch von Zivilcourage in einer Welt, die gegenwärtige Probleme zuspitzt. Trotz der pessimistischen Ausgangslage ist den gegenwärtig so erfolgreichen Texten die Widerstandsbewegung immer eingeschrieben. Sie setzen das Motiv Hoffnung denkbaren zukünftigen Abgründen entgegen.
 

Jede Dystopie ist in Bezug gesetzt zu der Zeit, in der sie entstanden ist. Einerseits kann sie als Resultat dieser Zeit verstanden werden, andererseits liegt es an den zeitgenössischen Leser_innen, sie zu bewerten. Im Kontext politischer oder ethischer Bildung kann also so manch trivial erscheinende Text fruchtbar gemacht werden. Der Verfremdungseffekt „Zukunft“ und spannende Plots können helfen, gesamtgesellschaftliche Themenstellungen wie Regierungsformen, Gesellschaftspolitik, Nachhaltigkeit oder Sozialethik zu diskutieren. Themenstellungen, deren Radikalisierung – wie sie die Future Fiction betreibt um Missstände aufzuzeigen – hoffentlich noch lange nicht von der Gegenwart eingeholt werden.

 

Literatur

 

 

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