Digitales Lesen

Die digitalen Veränderungen betreffen nicht nur die Produktion, sondern auch die Konsumation von Literatur. Entgegen kulturkonservativen Befürchtungen steigen mit der Digitalisierung die Anforderungen an unsere Lese- und Sprachkompetenz.

AutorIn: 
Monika Reitprecht


Die neue Erfindung führe zu einer verminderten Merkfähigkeit, nachfolgende Generationen seien einer Flut an Informationen ausgesetzt, die sie jedoch weder einordnen noch verstehen und interpretieren können. Hier beklagt kein Kulturkonservativer des 21. Jahrhunderts die Gefahren des Internets; diese sehr gegenwärtig klingende Kritik ist fast zweieinhalb Jahrtausende alt. Sokrates warnte vor der Verbreitung der Schrift – denn wer annehme, dass er aus schriftlichen Aufzeichnungen etwas "Deutliches und Sicheres" entnehmen könne, sei überaus einfältig.(1) Die Parallelen zu den kulturpessimistischen Befunden über die Zukunft des Lesens von heute sind virulent.

 

Digitale Kulturrevolution

Im Hinblick auf die Kulturtechnik Lesen erleben wir ExpertInnen zufolge derzeit die größte Umwälzung seit Erfindung der Schrift. Zweifellos haben technologische Errungenschaften der letzten Zeit – Stichwort Digitalisierung – zu veränderten Formen der Produktion und Konsumation von Texten und Literatur geführt, die von vielen als "kulturelle Revolution" empfunden werden.(2) Das emotional besetzte Objekt Buch wird von GegnerInnen der Digitalisierung zu einem "Symbol für das Gute an unserer Zivilisation" (v)erklärt. Der Niedergang des gedruckten Buchs ist für sie damit gleichbedeutend mit der Gefährdung qualitativ hochwertiger Literatur – und sie fürchten um die kognitiven und sprachlichen Kompetenzen der künftigen Generationen.(3)

 

Lesen ist eine Basiskompetenz – auch im digitalen Zeitalter

Neben gedruckten Büchern gibt es heute eine Vielzahl digitaler Leseangebote. Dabei handelt es sich nicht nur um digitalisierte Printtexte, wie E-Books, Online-Zeitungen und Apps für Zeitschriften und Kinderbücher. Darüber hinaus existieren noch etliche originäre Formen des Online-Lesens: das Surfen und Recherchieren im Internet, das Lesen von E-Mails, SMS, Blogeinträgen, Newslettern, Beiträgen in sozialen Netzwerken wie Facebook und Twitter, um nur einige zu nennen. Die oft gehörte Klage über die heutige Jugend, die den ganzen Tag vor dem Computer sitzt oder in ihr Handy starrt, anstatt zu lesen, trifft nicht den Punkt. Um sich der sogenannten "neuen Medien" und ihrer Funktionen bedienen zu können, muss man häufig lesen (und schreiben). "Gerade weil das Lesen mit elektronischen Medien eine unabdingbare Voraussetzung für die Teilhabe an Bildungsangeboten, Arbeitsprozessen, Freizeitaktivitäten und anderen Lebensvollzügen ist, sind die Anforderungen an Lese- und Sprachkompetenz gewachsen und werden mit der noch zunehmenden Digitalisierung weiter ansteigen." (4)

 

Neue Formen des Lesens

Die spezifische Hypertextstruktur des Internet bringt eine grundlegend andere Form des Lesens mit sich. Das klassische Buch steht für sequentielles Lesen, d.h. der Text wird linear als Ganzes gelesen, der Autor führt den Leser gleichsam durch den Text, Sinnzusammenhänge werden durch den Verfasser nahegelegt. Demgegenüber steht die "nicht-lineare Hypertextualität" (5) des Web, die punktuelles Lesen nach sich zieht, der Text wird selektiv und sprunghaft gelesen. Der Verfasser ist nicht mehr alleiniger Schöpfer und Bestimmer über Sinnzusammenhänge; "hypertextuelles Schreiben und Denken [vollzieht sich] in unmittelbarer Interaktion mit dem Schreiben und Denken anderer Menschen. (…) die Interaktionsmöglichkeiten sind unendlich."(6)

 

Gefahr durch Links?

Die Sorge um die Lesekompetenz der Jugend fußt meist auf dem Umstand bzw. der Annahme, dass sich digitales Lesen von der Lektüre gedruckter Texte wesentlich unterscheidet. "Gefahr durch Links" wittert der Pädagoge Reinhard Lindenhahn: Der unerfahrene Jugendliche könne sich sehr leicht in den Untiefen des WorldWideWeb "verirren".(7)


Die Neurowissenschaftlerin Maryanne Wolf warnt ebenfalls vor den "Gefahren des digitalen Lesens".(8) Das Internet schule zwar unsere Fähigkeit zur räumlichen Navigation zwischen Informationen und zur Aufnahme und Gewichtung von großen Wissensmengen. Digitales Lesen ist in ihren Augen aber ein oberflächlicher, von kurzen Aufmerksamkeitsspannen geprägter Vorgang – für Wolf trifft das offenbar nicht nur auf ursprüngliche Online-Inhalte, sondern auch auf E-Books zu. Nur beim Lesen gedruckter Bücher würden wir große Teile beider Gehirn-Hemisphären nutzen und in andere (tiefere) kognitive Zonen vordringen. Sie fürchtet den Effekt, der schon Sokrates Sorgen machte: Das Internet verführe uns dazu, zu glauben, wir wüssten etwas – dabei stünden wir doch erst am Anfang des Erkenntnisprozesses. Kritisches und "tiefes" Lesen würden Kinder nur mit gedruckten Büchern lernen, glaubt Wolf – gesteht aber ein, dass es noch keine neurologischen Daten zu den Effekten digitalen Lesens gebe.

 

Lesen oder Nichtlesen – das ist die Frage

Die Sonderauswertung "Lesen im elektronischen Zeitalter" der PISA-Studie 2009, an der sich Österreich als einziges deutschsprachiges Land beteiligte, legt jedenfalls nahe, dass Lesekompetenz unabhängig vom Trägermedium erworben wird.(9) Je besser die jugendlichen Probanden gedruckte Werke verstanden, desto besser verstanden sie auch digitale Texte. Die "Front" verläuft also womöglich nicht zwischen analog und digital, sondern zwischen Lesen und Nichtlesen. In anderen Worten: Wer gerne liest, tut das auf unterschiedlichsten Medien, dem gedruckten Buch, dem E-Book-Reader oder dem Smartphone.

 

Ergänzung statt Konkurrenz

Der Medienwandel ist nicht zuletzt von großer Relevanz für Bibliotheken und deren Zugang zu Leseförderung. BibliothekarInnen sind gut beraten, digitales Lesen nicht als Konkurrenz zum "wertvollen" Lesen klassischer Printtexte, sondern als sinnvolles komplementäres Angebot zu sehen. Gerade für "leseferne" Jugendliche ist der E-Reader die attraktivere Alternative zum oft als altmodisch empfundenen Buch.(10) Die einschlägigen Maßnahmen (nicht nur) Öffentlicher Bibliotheken müssen sich digitaler Trägermedien und Lesestoffe bedienen, wenn sie die junge Mediengeneration erreichen wollen.

 

 

Anmerkungen:

(1) Platons Dialog Phaidros. Übers., erläutert von Constantin Ritter. Verlag Felix Meiner, Leipzig 1922. 2. durchgesehen und verbesserte Aufl., S. 103 f. In: Platon. Sämtliche Dialoge. Verlag Felix Meiner, Hamburg 1998, Band II.
(2) Christine Grond-Rigler: Der literarische Text als Buch und E-Book, S.7. In: Christine Grond-Rigler, Wolfgang Straub (Hg.): Literatur und Digitalisierung. De Gruyter, Berlin/Boston 2013.
(3) Ebd. S. 9.
(4) Simone C. Ehmig, Lukas Heymann: Die Zukunft des Lesens, S. 256. In: Christine Grond-Rigler, Wolfgang Straub (Hg.): Literatur und Digitalisierung. De Gruyter, Berlin/Boston 2013.
(5) http://www.sandbothe.net/38.html
(6) Ebd.
(7) http://www.lehrer-online.de/dyn/bin/neue_medien_im_du_komplettversion2_322855-322888-1.pdf
(8) http://www.sueddeutsche.de/wissen/hirnforschung-sorgen-sie-fuer-ein-haus-voller-buecher-1.976164
(9) Simone C. Ehmig, Lukas Heymann: Die Zukunft des Lesens, S. 258. In: Christine Grond-Rigler, Wolfgang Straub (Hg.): Literatur und Digitalisierung. De Gruyter, Berlin/Boston 2013.
(10) Ebd. S. 259.

 

 

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