Buchstaben in Laute verwandeln
„Ich war vier, als ich entdeckte ich, dass ich lesen konnte. Überall und immer wieder hatte ich gesehen, dass die Buchstaben, die ich kannte (weil man sie mir erklärt hatte), die Namen der Bilder formten, unter denen sie standen.“ Alberto Manguel (1)
Die Silhouetten der Buchstaben und die Formen der Wörter sowie das Wissen um die Laute, die die Buchstaben repräsentieren, rufen im Gehirn sowohl Wissen über die Bedeutung des konkreten Wortes als auch die dazu passenden Assoziationen hervor. Einerseits wird somit das Grammatik- und Semantiksystem im Gehirn des Lesenden aktiviert, während andererseits dem Gelesenen Bedeutung gegeben wird. Diese setzt sich aus den bisher gesammelten Erfahrungen (Weltwissen und Bildung) zusammen.
Vorstufen des Lesens
Kinder sind „meaning makers“, also Bedeutungsmacher für Zeichen: Alles, was Kinder in ihrem Umfeld als Zeichen bzw. Bilder erkennen, wird von ihnen mit einer Bedeutung versehen. Das Betrachten des ersten Bilderbuchs ist für ein Kind die erste Lektüre: Bilder erzählen Geschichten, das betrachtende Kind erkennt Positionen, Formen und Bewegungen im Bild. Das Verstehen von Bildern (visual literacy) schafft die Grundlage des späteren Erkennens von Zeichen: Zweijährige unterscheiden bereits zwischen realer Welt, zum Beispiel einem echten Ball, und dessen Repräsentation, beispielsweise der Abbildung im Buch. Kinderreime unterhalten die Kinder nicht nur, sondern unterstützen sie dabei, ein Gespür für Phoneme (ein Phonem ist die kleinste bedeutungsunterscheidende Einheit der gesprochenen Sprache) zu entwickeln: Kinder machen dabei die akustische Erfahrung, dass Wörter ähnlich klingen, jedoch unterschiedliche Bedeutungen haben. „Mann“ reimt sich auf „Schwamm“ und auf „Kamm“: So differenzieren bereits Vorschulkinder Laute – Lautpaare sowohl im Anlaut als auch im Wortinneren: Wer die einzelnen Phoneme (Laute) eines Wortes segmentieren (erkennen und trennen) kann, ist dem Lesenlernen schon sehr nahe.
Vom entziffernden zum verstehenden Lesen
Je größer und differenzierter der Wortschatz der SchulanfängerInnen ist, desto leichter fällt ihnen das Lesen bzw. Lesenlernen: Je größer das Hintergrundwissen, desto höher ist das Dekodierungsvermögen (Fähigkeit zur Entschlüsselung der Phoneme). Lesenlernen ist eine enorme Koordinationsleistung. Es bedeutet, sowohl die Form der Buchstaben unterscheiden zu lernen und sie dem richtigen Laut zuzuordnen, als auch diese Einzellaute zu Silben und schlussendlich zu vollständigen Einheiten zusammenzulauten. LeseanfängerInnen erschließen sich die Bedeutung des einzelnen Wortes sowie die Bedeutung von Satzteilen und Sätzen, zudem lernen sie bestimmte Buchstabenkombinationen in ihrer Funktion als Vor- und/oder Nachsilben erkennen: Sie erfassen schließlich ein geschriebenes Wort als Ganzes und setzen es in Sprache um.
Flüssiges und sinnbetontes Lesen
Das Alphabetprinzip basiert auf der Buchstaben-Laut- oder Graphem-Phonem-Korrespondenzregel der Sprache. Wie schnell Kinder lesen, hängt überwiegend von ihrem semantischen Wissen (Wissen um die Bedeutung) ab, das durch das Wort in ihnen „abgerufen“ wird. Semantisch Unbekanntes drosselt das Lesetempo, das gilt für Kinder wie für Erwachsene. Neben den kognitiven Fähigkeiten des Dekodierens fließen auch Lebenserfahrungen und Empathie in das Entschlüsseln der Texte ein. Diese Interaktion zwischen Text und LeserInnen ist die höchste Form der Lesekompetenz.
Anmerkungen:
(1) Alberto Manguel: Eine Geschichte des Lesens. Frankfurt/Main: S. Fischer 2008. S. 28.
Literatur:
- Peter Drumbl: Legasthenie und Lese-Rechtschreibschwäche. Leykam Verlag 2002.
- Marie Luise Rau: Literacy. Vom ersten Bilderbuch zum Erzählen, Lesen und Schreiben. Haupt Verlag 2009.
- Christa Kieferle, Eva Reichert-Garschhammer, Fabienne Becker-Stoll (Hrsg.): Sprachliche Bildung von Anfang an. Strategien, Konzepte und Erfahrungen. Vandenhoeck & Ruprecht Verlag 2013.
- Maryanne Wolf: Das lesende Gehirn. Wie der Mensch zum Lesen kam – und was es in unseren Köpfen bewirkt. Heidelberg: Spektrum Verlag 2010.